f Psychogeplauder: Alltagshelden

Sonntag, 2. November 2014

Alltagshelden


Allerseelen: die  Lebenden  bitten  und  beten  für  die  Toten.
Sie  wollen  ihnen  helfen, die  Qualen  der  Läuterung  gut  zu  überwinden.




Das Heldengedenken ist ein wichtiges Format des menschlichen Selbstbildes, quasi sein Höhepunkt. Doch worin liegt der Unterschied begründet zwischen Alltagshelden und Superhelden?


Die Superhelden heißen Herkules mit seiner genialen Saustallreinigung, Bruce Willis in Stirb´ langsam, Oliver Bierhoff mit dem golden goal 1996 in England oder auch Adele seit ihrem legendären Konzert in London. Du schaust Ihnen gerne zu. Und das immer wieder, für solche lustvollen Betätigungen gibt es seit einigen Jahren auch die sich verbreitende Sitte, ganze Spezialheldennächte einzulegen, zum Beispiel eine „007-Nacht“ mit vier James Bond-Filmvideos hintereinander, kombiniert mit Freunden und Pizzaservice von 22 Uhr bis 4 Uhr früh. Selbst im Grunde bereits antik zu nennende Musikkonzerte, Fussballmatches oder Kriegsherren bleiben seit Jahrzehnten auch bei den x-ten Wiederholungen im Quotengeschäft.

Bei den Alltagshelden ist das anders. Sie können faszinieren, aber nicht so lange. Danach möchte man wieder Abstand nehmen. Ein großes Farbportrait, eine ausführliche Photoreportage oder auch ein besonders lange vom erlesenen Publikum beklatschtes Live-Interview face-to-face in einem TV - Jahresrückblick, nach dessen Ende alle im Saal gutgekleidet aufstehen, das haben die Alltagshelden verdient, aber dann ist auch wieder gut. Weil du nicht weißt, wie du ihnen auf Dauer begegnen sollst.

Bei ihm war das einzige gemeinhin heldenhafte sein Vorname. Dieser war ausgewählt nach einem Jazzmusiker in Orleans, den sein Vater einmal bewundert hatte. Und deshalb hieß er anders als die anderen Kinder. Viel mehr als seinen Vornamen hatte der Vater ihm nicht hinterlassen. Als er 4 oder 5 Jahre alt war, zeigte sich immer mehr Kraftlosigkeit in den Beinchen. Er war nicht so fix beim Bewegen. Da machte sich sein Papa aus dem Staub. Wie so viele Väter, die es nicht ertragen können. Als er zwölf war, konnte er die Arme nicht mehr ausstrecken. Er hatte drei Rückenoperationen hinter sich. Mit 16 Jahren bekam er einen Elektrorollstuhl. Erst nur für einige Stunden am Tag. Später konnte er sich ohne ihn nicht mehr fortbewegen. Es gab unzählige Anpassungen des Rollstuhls, was jeweils dreistündige Aktionen bedeutete. Ziel war, dass er sich beim Sitzen nicht wund scheuerte. Eine Freundin hatte er nie. Er war nie schwimmen. Er konnte nicht länger als eine Stunde im Chor singen, dann wurde er kurzluftig. Ein Instrument konnte er nicht spielen. Das machte ihn traurig, er liebte Musik. Die Nächte waren schwer. Da war er allein. Ohne Helfer, nur mit der Atemmaschine, und hatte Angst.

Wenn er zu mir kam, war das eine Anstrengung: ein großer dunkelblauer Kastenwagen fuhr vor. Er wurde abgestellt im Halteverbot, erstes Kopfschütteln bei Passanten. Dann hupende Autofahrer. Eine zuverlässig, aber sehr langsam sich absenkende Metallplatte trug ihn. Man sah ihn dabei noch gar nicht, da er rückwärts saß. In seinem Elektrorollstuhl senkte er sich nach draußen. Vorübergehendes Nachlassen des Hupens. Die schwere Holztüre, die unten etwas schleifte, war nicht ganz bis 90 Grad zu öffnen. Sein Helfer drückte sie so weit wie möglich auf. Er schaffte es durchzurollen. Dann fuhr er genau mittig in den Fahrstuhl, damit er nicht hängen bliebe. Der Helfer konnte dann wieder gehen, um ihn nach 50 Minuten abzuholen. Oben angekommen, war die nächste Klippe ein dicker Teppich im Sprechzimmer, den er umfahren musste. Das tat er geschickt, wortlos, schnell. Ich musste ihm aus seiner Jacke helfen wie einem Kind, das war unangenehm für ihn und für mich. Manchmal weinte er. Selten bei mir, meistens nachts, wenn wir anderen schlafen. Dunkel und unsicher war die Frage, wie alles weitergeht. Die Hausaufgaben für seine Ausbildung konnte er nicht mehr gut mit dem laptop schreiben. Denn er beobachtete, dass auch seine Finger schwächer wurden. Seine Arme waren so dünn wie Bambusstöcke. Auch an Sommertagen trug er langärmelige T- Shirts, damit die anderen nicht so gucken. Ich habe ihn nie stehen sehen. Schätze, dass er 1.70 cm groß war. Er versuchte, seine ganze Intelligenz und Feinsinnigkeit einzusetzen, um für andere angenehm zu sein. Das war seine Strategie, wie er mir einmal erklärte. Tatsächlich hatte er viele Freunde. Wenn er für ein Wochenende zu seiner Mutter fahren wollte, oder zum Kontrolltermin beim Orthopäden in der Nachbarstadt, bedeutete das mehrstündige Organisation. Helfer mussten gesucht, nach berechneten Stunden bezahlt, geschont, manchmal wieder weggeschickt werden, wenn sie sich das Lenken des Kastenwagens nicht zutrauten. Nur mit seiner immer gleichen kleinen Wasserflasche war er autonom. Die passte genau in eine extra dafür geschaffene Aussparung des Elektrorollstuhls. Zum Trinken musste er, dank zurechtgebogenen Strohhalms,  niemanden bitten. Einmal hatte er sich verliebt. Und registriert, dass sie ihn überging. In der Zeit nahmen die zermürbenden Muskelschmerzen zu. Er musste sich mittags oft hinlegen. Weil alles weh tat. Weil seine Ausbildung das wichtigste war, machte er auch die Praktika alle mit. Das Neue lenke ihn ab, sagte er einmal. Er organisierte oft stundenlang. Er mailte und telefonierte. Mit Ämtern, Sozialbehörden, Behinderteneinrichtungen, mit der Fachschule, Arztpraxen und Krankenkassenberatern. In ihm tickte die Zeit. Seine Todesursache würde voraussichtlich Ersticken sein. Statistisch gesehen hatte er es schon weit gebracht. In manchen Stunden wurde statt geredet mehr geschwiegen. Der Zeiger meiner Tischuhr war dann ganz leise zu hören und wir, beide, erstarrt und beklommen, hielten es bloß aus.

Bei unserem Abschied fühlte ich großen Respekt. Und Erleichterung. Schwer kann es sein, das Mitempfinden. Jetzt, Jahre später, denke ich noch oft an ihn. Eine große Seele in einem sehr schwachen Körper. In Anbetracht seiner Lebenserwartung war dies vielleicht ein Epilog.



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