ahnungslose Gans im August |
In den ersten Jahren meiner Praxistätigkeit fühlte ich mich während der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage so ähnlich wie die Notfallzentrale der örtlichen Feuerwehr;
ich stellte nämlich ziemlich schnell fest, dass das Fest der Liebe viele Psycholeichen vor oder nach sich zieht und, wie ein forensischer Mediziner in meinem Bekanntenkreis behauptet, gelegentlich auch echte Leichen, denn an Weihnachten hat er doppelt so viel zu tun wie sonst in Sachen Mordaufklärung. Ich hatte also ein imaginäres Schwesternhäubchen auf dem Kopf und arbeitete bis zum 24.12. mittags um zwölf, um quasi die allerhärtesten Fälle kurz vor der abendlich drohenden Tannenbaumnummer noch abzufangen und zu versorgen; tagelanges Tatüü-Tataa, wobei ich im Laufe der späteren Jahre doch etwas weiser und demütiger wurde, was die Einschätzung meiner Einwirkungsmöglichkeiten anging, und den Laden kurzerhand am 23.12. bis Anfang Januar zuschloss. Es ist mir nicht bekannt, ob seither die Kripo hier in der Kreisstadt an Heiligabend mehr zu tun hat als in den Jahren zuvor.
Einmal ging es um eine angehende Abiturientin, die die Vorstellung, dass sich ihre für den Rest des Jahres getrennt lebenden Eltern bei Würstchen und Kerzenschein gegenseitig die Köpfe einschlagen, damit parierte, dass sie im Ethikunterricht Selbstmorddrohungen ausstieß. Alle waren alarmiert, zumal sie Heiligabend einen Termin um 11 Uhr bei der Therapeutin hatte, das roch nach wichtig-wichtig, aber im Grunde war es ein unausgesprochener deal, denn ihre Eltern mussten sich zusammenreißen und die Tochter tat sich dafür im gnädigen Gegenzug dieses Jahr nun doch nichts an. Der Seelenstress geht aber meistens bereits in den Wochen vorher los. Da werden im Vorfeld des Großereignisses die Termine gesetzt, schon Ende November werden die drei „w“s ausgehandelt, wer wann wohin zum Essen kommt, und immer ist irgendwer gekränkt. Die Einladenden sind angenervt wegen der Vorbereitungen (Supergau: die Gans ist größer als das Backofeninnere) und die Eingeladenen würden am liebsten einen Doppelgänger erfinden, der für sie hingeht, weil sie eigentlich bloß noch ihre Ruhe haben wollen und aus dem Bett heraus alte Filme sehen und Dominosteine essen. Der Nikolaustag ist dann, wenn auch noch Kinder mit von der gefühlsschwangeren Partie sind, schon der Beginn der heißen Phase. Da kommen die Cousinen und Cousins, Omas und Opas, die Tanten und die Onkels, und wenn letztere zusätzlich als Patentanten oder Patenonkels fungieren, wird diesen spätestens da in der Küche von Mutter Sandra ein Wunschzettel der beiden Kleinen zugesteckt. Für den Tag selbst bringt Tante Melanie einen Korb mit Päckchen, das sollen ja nur Kleinigkeiten sein, aber jedesmal ärgert sie sich, weil die andere, wenngleich bloß angeheiratete, Tante Natascha sie päckchenbezogen übertrumpft und der kleine Kevin und die noch kleinere Jolina sowieso bloß alles aufreißen und sofort links liegen lassen. Da können schon mal Tränen fließen, aber nicht vor Rührung! Onkel Max, sonst hinsichtlich seiner Kommentare allseits beliebt, da er üblicherweise versucht, die Dramaturgie runterzubrechen und zu versachlichen (Leute, Jacken auf, fröhlich sein!), fällt zur Besänftigung diesmal aus, weil er schon zuviel getrunken und sich infolgedessen aus allem rausgehalten hat und Gastgeber Justin ist angesäuert, weil die vorweihnachtliche Kommerzveranstaltung bis zum Sendebeginn der Sportschau trotz mehrfachen demonstrativen Guckens auf seine Uhr nicht beendet wurde, so dass er auch noch auf´s Heiligste verzichten muss. In der Woche drauf beginnt die Wunschzettelabarbeitungsphase für Heiligabend und Melanie ärgert sich, weil da so teure Sachen drauf stehen. Sie hat Sandra im Verdacht, da bei den dokumentierten Kindersehnsüchten ideenspendend nachgeholfen zu haben, weil Justin arbeitslos ist und zuwenig Kohle heimbringt, aber Melanie sagt sich, nicht mit mir, und beschließt nach zwei Glühwein mit Schuss auf dem Weihnachtsmarkt, einfach was ganz anderes zu schenken und auf keinen Fall ein Nintendo 3 DS XL in Pink mit 600 Spielen. Es gibt aber noch schlimmere Varianten, das ist dann, wenn der Wunschzettel einfach nicht kommt, obwohl man schon zweimal gesimst hat, wo er bleibe, und irgendwann stampft Melanie dann mit dem Fuß auf und verkündet, wenn der Wunschzettel nicht bis zum Wochenende da ist, gibt´s gar nix!, doch das hält ihr Mann Wolfi nicht aus, der sowieso in Melanies Familie einen schweren Stand hat, weil er nie über die Witze von Max lacht und außerdem vor Jahren einen geliehenen Wagenheber nicht zurückgab; er schiebt ein worst-case-Szenario nach dem anderen, warnt Melanie, kauf´ irgendwas, aber lass´ dich nicht provozieren, schließlich beginnen die beiden zu streiten und das neue i-pad, das sie sich schon im Oktober zu Weihnachten selber geschenkt haben, fällt auf den Boden und die Stimmung gleich hinterher. Melanie sagt, letztes Jahr habe der kleine Kevin gesagt, och, bloß zwei Päckchen, und das habe die kleine Jolina gehört und habe dann gleich mitgekräht, boosweibägen, und dass sie das überhaupt nicht einsehe, dem undankbaren Pack überhaupt noch was Wertvolles zu schenken. Dass sie als Patentante ausgewählt worden sei, obwohl schon Jennifer und ihre Halbschwester Emma an ihrer Geschenkepipeline hingen, sei ja sowieso aus Berechnung passiert, und nicht mit mir. Außerdem habe ihre Therapeutin, damit meint sie mich, ihr gesagt, blinder Gehorsam sei die Voraussetzung für jede organisierte Gewalt und er, Wolfi, wolle sie ja wohl nicht demnächst im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses besuchen.
In vielen anderen Ländern ist das eher eine lustige oder auch wahlweise kulinarische Angelegenheit, aber in Deutschland, wo Gemütlichkeit und Sehnsucht erfunden wurden, kommst du aus der Weihnachtszeit selten ohne Lackschäden heraus. Als Therapeut hörst du dir die gesammelten Weihnachtsrückblicke und –vorausschauen an und fragst dich, warum du bei der Berufswahl nicht klüger warst. Die Patienten weinen mehr als sonst und sind dünnhäutig, manchmal schluchzen sie schon im Wartezimmer, wenn du sie hereinbittest in den Therapieraum. Wahrscheinlich weinen sie deswegen, weil die Psychopraxis eine Art weihnachtsfreier Raum ist, und zwar der einzige, zu dem sie Zuflucht suchen können, und das öffnet bekanntlich Schleusen. Daher verzichte ich seit Jahren auf spezifische Deko und lasse meine Patienten in dem Glauben, ich sei aus einem anderen Stoff gemacht, Buddhistin oder Islamkonvertierte und von daher mit Weihnachten überhaupt nicht befasst, so wie ein neutrales Vakuum im Weltall oder eine überkonfessionelle Autobahnkapelle.
Im Januar lassen sie sich dann ermattet auf den Therapiesessel fallen und sagen, bin ich froh, dass es rum ist. Die rücksichtslose Tyrannei der Intimität hat Pause, bis das Ganze im November wieder auf leisen Pfoten von vorne beginnt. Ich habe mir vorgenommen, meine Praxis nächstes Jahr demonstrativ weihnachtlich zu schmücken, das eröffnet mir die Möglichkeit, empathisch als Leidensgenossin identifiziert und folglich von zuviel Festtagsstimmung verschont zu werden. Das wäre das einzige, was ich mir wünsche, ehrlich!
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