f Psychogeplauder: Februar 2019

Samstag, 23. Februar 2019

Das Ende vom Schwein


Das  Mini-Schwein  Polly  war  im  September 2006  
zu  Gast  in  einem  Fernsehstudio.

Photo: Sendung „Planet Wissen“ (ARD)


Es ist meistens ein Zeichen der Besserung, wenn depressive Patienten mir spontan ihr Lebensmotto verkünden – oder besser gesagt, dieses wiederfinden, zum Beispiel weil es im Morast grüblerischer Melancholie länger verschollen war und im Laufe der Therapie wieder hervortritt. Das war neulich ein wahrer Durchbruch. Helmut, so möchte ich ihn nennen, weil er, wie der große Helmut Zacharias, ein begnadeter Musiker war, hatte sich anderthalb Jahre zuvor an mich gewandt mit der schlimmsten Trauerreaktion, die ich je bei einem Patienten diagnostiziert hatte. Er war tatsächlich dreieinhalb Jahre nicht zum Friseur und nicht zum Arzt gegangen, hatte seine Wohnung gekündigt und war, über 50 jährig, zu seiner ältesten  Schwester gezogen, wo er dahinvegetierte, das einzige Gewaschene an ihm waren seine Hosen, die die Schwester ihm hinlegte, und ansonsten hatte er in gewisser Weise aufgehört zu leben. Er sagte ein Engagement nach dem anderen ab, hatte dadurch bedingt immer weniger Geld, seine Sachen waren in einen Container eingelagert und die Sachen seiner verstorbenen Frau ebenfalls. Beide Container trennten 400 Meter Luftlinie, er hatte sie bisher nicht betreten können, als er schließlich im dritten Jahr nach dem Tod seiner Gefährtin bei mir vorsprach, weil ein Freund ihm sagte, so geht es nicht weiter. Wir erarbeiteten schrittchenweise die Einsicht, dass er seit dem Todesfall lebte, als sei sein Leben vorbei. Er sah keine Zukunft für sich und keine Gegenwart – alles war im wahrsten Sinne des Wortes „eingelagert“, nicht nur seine  Sachen und die der toten Frau, auch seine Eigenschaften, Wünsche, Hoffnungen. Von warmen Hosen ganz zu schweigen. Der Abschied war ein riesen Thema, er brauchte unendlich lange, den Verlust zu akzeptieren. Wenn während der Zeit seiner Behandlung jemand in der Umgebung starb, brach alles wieder aus ihm heraus, und wir mussten geduldig von neuem anfangen, die Verluste zu ordnen, die Frage der Beerdigungsteilnahme zu überlegen (ja  - nein – nur Friedhof, kein Leichenschmaus) und den Blick, zaghaft, wieder in seine Zukunft lenken.
Neulich brachte Helmut mich, das will was heißen, zum Lachen. Um es milde auszudrücken. Ich hatte einen Lach-Anfall. Helmut geht es besser. Er berichtete, dass er derzeit viel Energie darauf verwende, einem Freund beizustehen, der von seiner Ehefrau abrupt betrogen und dann verlassen worden sei. Er kümmerte sich rührend, schleifte ihn zum Therapeuten (!), redete ihm gut zu, dass nicht alles Gold gewesen sei, was da seitens der Gattin geglänzt hatte. Es könne doch auch ein neuer Anfang sein! Das Gute im scheinbar Schlechten! - Ich atmete flacher. - Und er habe dem Freund sein Lebensmotto mitgeteilt. - Ich japste. - Ihr Lebensmotto? - Ich hechelte. - Sie haben ein Lebensmotto? Das will ich hören! Helmut, der mehrjährig Scheintote, verkündete stolz: Das Ende vom Schwein ist der Anfang der Wurst!