f Psychogeplauder: Engelwesen

Donnerstag, 9. Januar 2014

Engelwesen




Giardino  pubblico,  Taormina,  Sicilia



Sie kostete mich durch ihr Anderssein von Anfang an Nerven. Als sie fürs Erstgespräch angemeldet war und noch fünf Minuten Zeit bis zum vereinbarten Termin waren, wollte ich zum Hausbriefkasten gehen, um die Post zu holen, und öffnete zu diesem Zweck die Tür. Da stand sie,
wie angewurzelt, eine große, wirklich sehr große Frau mit schwarzen Locken. „Warum haben sie denn nicht geklingelt ?“ – „Ich wollte nicht stören“. Ludmilla trug das, was sie in der Modebranche wohl Hochwasserhosen nennen, dazu ein schreckliches pinkfarbenes Fleeceshirt mit zu kurzen Ärmeln, eines von jener Sorte, die aus jeder auch noch so volljährigen Frau in Sekundenschnelle ein Habt-mich-lieb-Kind im Grundschulalter macht. Sie erzählte mir heiter ein Arsenal voller Beschwerden. Nichts vertrug sie, alles machte Migräne, sie müsse „aufpassen“. Oft müsse sie stundenlang im Bett liegen, wegen Kopf-, Bauch- und Gliederschmerzen. Zahlreiche Heilpraktiker, alternative Geistheiler, Ernährungsberater und amerikanische Chi – Gong- Meister tauchten auf, dazu eine Lactoseintoleranz, Mutterallergie, Sorgen um die weit weg lebenden Großeltern, die schon alt seien und denen sie zu verdanken habe, dass sie ihre Kindheit bei einer offenbar durchgedrehten gewalttätigen Bibliothekarin überhaupt überlebt hatte. Ludmilla war aus Bulgarien aufgebrochen, um hier gleichzeitig Etnologie, Philosophie und vergleichende Religionswissenschaften zu lernen, aus ihren kurzen uneitlen Hinweisen schloss ich, dass sie vermutlich ein geisteswissenschaftliches Genie war. Danach liess sie in osteuropäischem Staccato umwerfend differenziert vorgetragene, wenngleich etwas schräg anmutende Bemerkungen zur christlichen Mystik fallen; schliesslich berichtete sie mir noch atemlos von schwarzmagischen Praktiken, die eine Schulkameradin während ihrer Kindheit an ihr verübt habe und von denen sie befüchte, dass sie wieder von solchen eingeholt würde, denn eine Wohnungsnachbarin sei eindeutig schwarzmagisch drauf und sie, Ludmilla, müsse sich mit spirituellen Kräften dagegen schützen. Sei gehe regelmäßig zum energetischen Operieren. Das sei Operieren ohne Schnitt, wo altes Karma herausgeholt werde. Ich hatte im ersten Gespräch wenig Redezeit, doch da Ludmilla eine Studentin war, die mittels eines Stipendiums für Hochbegabte ihr außerordentlich bescheidendes Leben finanzierte, fragte ich sie, was das denn alles koste. Sie sagte, alle machten ihr einen Sonderpreis, das sei ganz verrückt, offenbar eine Fügung, der Erzengel Gabriel habe da seine Hände im Spiel. Zwischendurch lachte sie immer wieder, was der besorgniserregenden Erzählung etwas Bizarres verlieh. Aktuell habe sie das Problem, zu einer Studienexkursion mitfahren zu müssen, das bedeute, Kontakte haben zu Leuten, die nicht eindeutig zuordenbar waren, und lauter Sachen essen, die sie nicht vertragen werde. Sie habe in ihrer Verzweiflung schon über ein ärztliches Attest nachgedacht. Es gebe Feinde in ihrem Umfeld, so dass sie nicht einschätzen könne, ob es ihr Direktor akzeptieren würde mit dem Attest oder ob sie damit bei ihm auf Mauern zwischenmenschlichen Unverständnisses stoßen werde.
Ich musste davon ausgehen, dass Ludmilla wohl etwas an der Waffel hätte. Aber sie einem Psychiater vorzustellen, erschien mir der falsche Weg. Ludmilla würde nicht nur kein Fleisch und keine milchzuckerhaltigen Speisen, sondern auch keine Gehirntabletten essen und außerdem würde sie aus Enttäuschung über die Psychiatriegeschichte nie mehr kommen. Ich beschloss, die Sorge um diese durchgeknallte Patientin vorerst alleine zu schultern. Als hätte sie diese Entscheidung mitbekommen, wurden ihre Einlassungen immer bemerkenswerter. Wenn sie in ihrer karg bemessenen Freizeit in einer bestimmten Kirche Orgel spiele, dann seien Engel da – durchaus nicht immer, aber wenn, dann gleich zwei, an der Ostseite, wo morgens das Licht hereinfalle. Sie gehe jetzt zu einer spirituellen Heilerin, die ihr gesagt habe, sie müsse den Schmutz in sich loswerden und sich von innen reinigen. Es gebe viel zu tun, aber sie könne es schaffen. Die Heilerin mache ihr einen Sonderpreis. Sie habe auch zwei ihrer Professoren überredet, dorthin zu gehen. In der Hochschule fühle sie sich beobachtet, da gebe es Komillitonen, die über sie redeten, sobald sie die Mensa betrat. Sie mache in solchen Fällen innere geistige Übungen, um sich zu immunisieren. Ludmilla war 28 und hatte noch nie einen Mann oder Freund, das schien sie auch lange nicht zu stören. Es passte nicht zu ihr. Sie war einfach anders. Sie absolvierte ein Examen nach dem anderen, alle mit Bestnoten, was ich nur zufällig in Erfahrung bringen konnte, und das, obwohl sie oft klagte, als ob es kein Morgen gebe. Einmal brachte sie mir eine langstielige Rose mit. Wahrscheinlich als Dank dafür, dass ich ihr in mühsamer Kleinstarbeit nahegelegt hatte, nicht ganz so viel Geld in allzu viele Behandler zu stecken, sondern die Angelegenheit doch ein wenig zu dosieren.
Nach zwei Jahren kam sie wieder. Sie hatte ständig neue Verliebtheiten zu bewältigen, ihr ersten beiden Examina und eine mittlerweile abgeschlossene Ausbildung als Thai-Masseurin absolviert und hatte sich von ihren früheren spirituellen Lehrern abgenabelt. Bis auf die, die energetisch operierte. Bei ihr liess sie manchmal eine telefonische Blitzbehandlung durchführen, vor allem vor wichtigen Terminen oder wenn ihr ihre Mutter durchs Telefon mal wieder Kraft und Selbstbewusstsein abgesaugt hatte. Allerdings überlegte Ludmilla, auch dies demnächst einzustellen, da sie es nicht mehr brauche. Sie berichtete mir detailliert von ihren Geist – und Phantasiereisen und stellte dazu gelegentlich messerscharfe Fragen. Ich freute mich auf die Sitzungen. Mir wurde klar, dass ich während der gesamten Behandlung bei Ludmilla noch nie auf solche, im allgemeinen als „menschlich“ kategorisierten, Gefühle gestoßen war wie Neid, Missgunst, Rivalität, Konkurrenz-streben, Geltungssucht, Rache oder Nachtragendsein. Eigentlich hätte es mir spätestens da dämmern müssen. Ludmilla hatte was Reines. Apropos. Sie ging zum ersten Mal im Leben in einen Wäscheladen und beschrieb mir, für welche erotischen Abenteuerdesigns sie sich entschieden hatte. An manchen Tagen sah sie einfach umwerfend aus. Ein Photograph, dessen Flyer sie in einem Bioladen gefunden hatte, hatte wunderschöne Aufnahmen für ihre ersten Bewerbungsfotos gemacht. Er hatte ihr einen Sonderpreis … du weißt schon. Engel gab es weiterhin unzählige. Sie tauchten im Stadtpark auf, sogar in der S-Bahn. Am Ende des zweiten Behandlungsjahres teilte sie mir mit, dass sie das neue Jahr ohne Therapeuten verbringen wolle, und dazu würde logischerweise auch ich gehören. Das sei zwar bedauerlich, aber für ihre weitere Entwicklung wichtig und ihre Entscheidung von daher unabänderlich. Sie brachte mir zum Abschied wunderbare Pralinen aus einer feinen Chocolaterie mit. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Lektion gelernt. Ich vermutete nicht mehr, dass sie etwas an der Waffel hätte. Ich hatte begriffen, dass sie selbst ein auf die Erde herunter gewehter Engel war.
Bei manchen Patienten ist man rückblickend ein bisschen stolz, dass sie einen eine Weile lang dazu ausgewählt haben, um über sich zu sprechen.

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