f Psychogeplauder: Ex post und ex ante (Corona II)

Donnerstag, 23. April 2020

Ex post und ex ante (Corona II)


Hinterher  ist  man  immer  schlauer




Während meiner Gymnasialzeit, irgendwann in der Mittelstufe, hörte ich einmal im Radio einen Beitrag, der sich mit der Schwierigkeit für die Politiker und Herrschenden früherer Epochen befasste, kluge geschichtsträchtige Entscheidungen zu treffen. Ehrlich gesagt konnte ich, vermutlich aus Altersgründen, noch gar nicht allem, was da gesagt wurde, folgen. Aber ein Gedanke blieb hängen: der Radiosprecher nannte ihn das Dilemma des historischen Urteils. Es bedeutet, dass diejenigen,
die eine Entscheidung unter Kenntnis von deren Folgen rückblickend beurteilen (können), besser dran sind als diejenigen, die diese Entscheidung einst treffen mussten und nicht deren Folgen kannten, sondern sich mit deren gedanklicher Vorhersehung begnügen mussten.

Das Prinzip fiel mir später bei den zahlreichen professionellen und unprofessionellen Kommentaren von Fußballmatches wieder auf: verspielte die Mannschaft in letzter Sekunde ihren Sieg und damit zwei Punkte, dann „hatte der Trainer nicht rechtzeitig die Defensive gestärkt“; gelang es ihr  stattdessen bis zum Abpfiff, den Vorsprung zu bewahren, dann „hatte der Trainer alles richtig gemacht und mit seiner bis zum Schluss konsequent offensiven Ausrichtung dem Gegner die Luft genommen“. 

Einmal mehr wurde ich, in wiederum abgewandelter Form, mit dem Dilemma des historischen Urteils konfrontiert, als die Kassenärztliche Vereinigung, noch vor den Online-Zeiten, bei ihren quartalsweisen Versendungen von Infounterlagen eine Weile die Angewohnheit hatte, ein buntes kleines Plakat mitzuschicken. Es war ein DIN-A5-Blatt in magentarot, mit einer stilisierten Glühbirne drauf, und darunter stand: Hinterher ist man immer schlauer. Das fand ich toll. Auch noch von einer gewissen „Obrigkeit“ so einen menschelnden Satz zugesandt zu bekommen, erschien mir als bedeutsames Zeichen, und so sammelte ich diese Zettel, ich glaube, es kamen mit der Zeit vier oder sogar fünf Stück zusammen, und klebte sie eine Weile an die Innenseiten meiner Praxisschranktüren. Ein Überich-Pin-up für schlechte Zeiten. Einen nahm ich sogar mit nachhause. Da muss man ja auch Entscheidungen treffen.

Jahre später stolperte ich über dieses mir nun bereits als geistiges Adoptivkind ans Herz gewachsene Prinzip bei einer Seminarvorbereitung zu juristischen Fragen in der Psychotherapie. Da stand, am Beispiel des Suizids eines Patienten, dass es bei der Beurteilung, ob dieser die Folge eines Behandlungsfehlers war, nicht auf die Ex-post-Perspektive ankomme – also auf die Betrachtung im Nachhinein, dass der Patient tot war -, sondern auf die Ex-ante-Perspektive, indem überprüft werde, ob der Therapeut zuvor in seinen Entscheidungen sich fachlich richtig verhalten habe. 

Jetzt, während der Coronakrise, fällt mir der Glühbirnensatz wieder ein und damit das gesamte Dilemma, mit dem sich die Politiker, aber auch die Bürger herumschlagen, einschließlich der PatientInnen und TherapeutInnen. Derzeit ist ja in vielen Bereichen Maskenpflicht, neuerdings auch in vielen Praxen. „Muss das wirklich sein?“ höre ich öfters, von Patienten, von meiner eigenen inneren Stimme, von Kollegen. „Die Verdopplungsrate geht doch zurück!“ Aber noch viel weiter gehen die Meinungen auseinander, was die wirtschaftlichen Folgen angeht, die derzeit – nach erstem Verarbeiten der körperbezogenen kollektiven Bedrohung – als argumentativer Faktor verstärkt in den Fokus geraten: „Bei einer normalen Influenza sterben doch viel mehr Menschen!“ – „War der shutdown nicht hysterisch?“ – „Viele Intensivbetten sind doch frei geblieben!“  - ja, aber vielleicht ja gerade wegen der durchgehaltenen hysterisch anmutenden Anordnungen der letzten Wochen… wer weiß? „Naja, wenn Sie es wollen“, sagte ein Patient zu mir, als ich ihm vor einiger Zeit ankündigte, vier Wochen lang auf alle face-to-face Kontakte zu verzichten und stattdessen eine Videosprechstunde vorschlug. Er hatte wenige Tage später einen coronainfizierten Sohn zuhause und sehnte sich nach einer Videositzung. Ich mich auch.

Die Folgen unserer Entscheidungen nicht überblicken zu können, ist schwer genug. Nun müssen wir auch noch Entscheidungen anderer und für andere mittragen, die die Folgen ebenfalls nicht kennen. Keiner kennt sie. Quadratur des Unterwerfungskreises? Vielleicht war ja alles übertrieben. Aber viel, viel schlimmer fände ich, wenn in 20 Jahren ein neues Virus auftaucht und keiner hätte daraus gelernt.

Meine unterfränkische Mutter hatte eine außerordentlich häufige erzieherische Bemerkung in ihrem Repertoire, welche ich schon als Kleinkind zu verdauen hatte; ich mag hier der Sprachkultur dieses Blogs zuliebe eine leicht herunter gebrochene, weniger deftige Form ihres Satzes zitieren: Hinnerher is´ rumgebabbelt! Ich vermute, da hatte sie recht. Aber früher fand ich´s total doof.


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