19:59 Uhr, irgendwo in Deutschland |
Ein Psychotherapeut, der auf sich hält und der seine geistige Heimat nicht unbedingt jedes Jahr neu erfinden möchte, gehört üblicherweise einer beruflichen Vereinigung an. Das kannst du dir so ähnlich vorstellen wie die Ortszentrale einer Partei
oder auch wie einen Stadtteilverein, bevorzugt zerstritten mit einem Nachbarstadtteilverein, aus historischen Gründen. Der häufig als Institut, Vereinigung, Gemeinschaft oder Akademie titulierte Therapeutenverein liegt meistens im Zentrum von Universitätsstädten, gerne Altbau wegen der durchschlagskräftigeren intellektuellen Aura. Pompös sind die Räumlichkeiten nicht, da das Psychogeschäft nicht nur im Vergleich zu, sagen wir, der Frankfurter Börse oder dem FC Bayern, sondern auch unter Betrachtung der meisten anderen Feld-Wald-Wiesen-Vereine über wenig Gelder verfügt. Das hat wohl verschiedene Gründe, alles ist ein bisschen ehrenamtlich, Geld verdienen wollen oder das zu behaupten gilt als wenig vergeistigt und politisch verdächtig, allenfalls als „interessanter Ansatz“ und die Psychotherapeuten selbst führen auch nicht gerade die Riege der Bestverdienenden im Medizingeschäft an. Das Klein-aber-fein-Gefühl tritt trotzdem ziemlich umgehend ein, sobald du da beitrittst und einmal eine Mitgliederversammlung erleben durftest, und dieser Umstand beschert dem Psychoverein eine sehr geringe Austrittsquote, mal abgesehen von jenen jahrzehntelang kolportierten und abwegigen Fällen, in denen ein Mitglied sein bislang vergeben erscheinendes Herz unter lautem „Traraaaa !“ dem anderen Stadtteilverein schenkt.
Man sollte auf keinen Fall zu früh sein, sondern notfalls nochmal um den Häuserblock ziehen; länger als zwei, drei Minuten vor dem Termin in den Versammlungsraum zu treten macht den Eindruck, dass Du nicht gut genug beschäftigt und vor allem nicht mit genügend wichtigen Dingen beschäftigt bist. Außerdem erlaubt das zeitige Kommen es nicht, sich die hinteren Stuhlreihen auszusuchen, weil das albern wirken würde. Die hinteren Stuhlreihen sind sehr begehrt, da du erstens nicht vom frontal plazierten Vereinsvorstand mal eben gefragt werden kannst, ob du dieses oder jenes Amt (als Einstieg empfiehlt sich: Schatzmeister) dir vorstellen könntest und darüberhinaus hast Du da einen phantastischen under-cover-Ausblick auf deine Kollegen, Supervisoren und Exlehrtherapeuten und kannst checken, wer wie drauf zu sein scheint und wer sich neben wen gesetzt hat. Als Hinterbänkler bist du relativ gefeit vor direkteren Ansprachen oder erwartungsvollen Blicken, andererseits musst du es auf Dauer mit deinem Selbstwertgefühl ausmachen, keine Funktion oder jedenfalls keine wichtige Funktion zu haben und allenfalls zu klatschen, wenn jemand aus dem Amt scheidet oder ein Neuer eintritt. Am interessantesten fand ich, bei meiner ersten Mitgliederversammlung, die Art des Grüssens. So etwas hatte ich bisher noch nicht erlebt, und wenngleich subtil, erschien es mir im Laufe der Jahre ein absolutes Charakteristikum zu werden. Wenn man einen bekannten Kollegen erblickt, dann nickt man, und zwar sehr kurz, aber ausdrucksstark, und dies noch einmal wiederholt. Es handelt sich also um ein Doppelnicken, dessen Botschaft schwankt zwischen: Ja, ich habe dich gesehen, und: Ja, es ist wichtig, weswegen wir beide hier sind. Privates geredet wird kaum, was allerdings auch an der Zeit liegt (man kommt knapp, da man oft eine längere Anfahrt und zuvor, wie du weißt, sehr viele Patienten zu behandeln hatte, und es geht ja dann gleich offiziell los); es gibt eine vollgestopfte Tagesordnung, die Punkt für Punkt basisdemokratische Aufmerksamkeit verlangt. Wenn jemand es schafft, etwas humorvolles zu sagen, dann geht ein erleichtert-kontrolliertes Kurzlachen durch den Raum, von der Art, wie du es manchmal in Konzerten erlebst, wenn der Dirigent, ganz locker, dem Publikum inmitten der feierlich-ritualisierten Stimmung unerwartet den Titel der Zugabe verrät und mit einer launigen Bemerkung kommentiert, und man guckt kurz in seitlicher Richtung, ob die anderen auch lachen, und dosiert artig. Zum Ende der Versammlung gibt es noch die Möglichkeit, bei Wein und kleinem leicht angetrocknetem Imbiß sich auszutauschen, und da gibt es dann nochmal ein Begrüßen, sozusagen eine kleinere Ausgabe des Doppelnickens, da man jetzt sich ja anders mischt und Leute sieht, die man vorher auf den Stuhlreihen noch nicht gesehen hatte. Das Interessante ist, das Nicken steckt an und du machst es im Handumdrehen genauso, und zwar jahrelang!
Ich hatte mal eine Freundin, die ihrem Mann zuliebe Zeugin Jehovas wurde und ich bin daraufhin, aus Freundschaft und aus Neugierde, mal als Gast zu so einer Versammlung mitgegangen. Ich weiß jetzt auch nicht, warum mir das an dieser Stelle einfällt.
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