f Psychogeplauder: Aufziehpuppen

Dienstag, 17. November 2015

Aufziehpuppen







Wahrscheinlich weißt du, was ich meine. Erwachsene mehr oder weniger gutgelaunte Personen wie du und ich befinden sich am frühen Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Sie überlegen seufzend, was sie heute erwartet,
erinnern sich zwischendurch an den gestrigen Film im Fernsehen und denken darüber nach, was sie mittags essen werden; daraufhin gehen sie, nach messerscharfer Auslotung ihrer nutritiven Bedürfnisse, sicherheitshalber noch beim Bäcker vorbei. Wenn sie selbständig sind, schließen sie mit ihrem eigenen Schlüssel ihr Büro, ihr Geschäft, ihre Kanzlei oder Praxis auf. Und wenn sie angestellt sind, ist bequemerweise das Gebäude ihrer täglichen Acht-Stunden-Schufterei meistens schon offen.


Dann scheiden sich die weiteren Wege je nach Profession.

Handelt es sich um einen Therapeuten,  guckt er auf die Uhr, nachdem er angekommen ist, um festzustellen, wieviel Zeit er noch hat, bevor es klingelt und er den Motor anwerfen muss. Dann nimmt er einen Schluck Tee und schaut nochmal auf die Uhr. Und dann geht es sekundengenau los. Klappe die erste. Frau Z. betritt das Therapiezimmer. Action. Der Therapeut begrüßt sie lächelnd. Er redet mit ihr über ihre Ängste und fühlt sich wie ihr Trainer. Fragt am Ende der Sitzung, die sich um den Tunnel des Lebens von Frau Z. drehte, mit Trainer-Blick, ob sie in der letzten Woche schon ihre reale Tunnelfahrt absolviert habe. Schüttelt den Kopf, wenn nein (häufig). Zieht anerkennend seine Augenbrauen nach oben und nickt, wenn ja (selten). Fühlt sich ein bisschen überlegen, da selbst nicht von Tunnelängsten befallen, kriegt darüber leichte Schuldgefühle, unterdrückt diese Gefühle aber fast perfekt. Schnitt. Dann kommt Frau B. und betritt den Raum und wenn es Montag ist, denkt der Therapeut kurz zuvor, hoffentlich hat sie gestern nicht wieder soviel Knoblauch gegessen. Klappe die zweite. Er begibt sich in einen verständnisvollen, sich zuweilen langatmig dahinziehenden Austausch über die Depression von Frau B. Sie ist eine warmherzige, nette Musikschullehrerin und kommt schon lange zu ihm. Er versucht, sich tonfallmäßig auf ihre Stimmung einzuschwingen und merkt zwischendurch zu seiner eigenen Überraschung, wie langsam und leise er redet, so dass er sogar die kleine Tischuhr ticken hört. Er macht ihr Mut, denn sie tut dem Therapeuten leid. Er vergisst den Knoblauchgeruch, weil er sich mittlerweile dran gewöhnt hat. Action. Er rutscht auf dem Stuhl etwas nach vorne und beginnt fünf Minuten vor dem Ende der Sitzung, verblüfft, was da an wirklich hörenswerten Gedanken aus ihm herauskommt, zu ihr zu reden über die Hoffnung wie einer dieser Wort-am-Sonntag-Pfarrer in der ARD, bei denen man am späten Samstagabend manchmal einschläft, weil man eine lange Arbeitswoche hinter sich hat. Dann Schnitt. Während der sich anschließenden zehnminütigen Pause versucht der Therapeut, den Knoblauchgeruch im Zimmer loszuwerden, ärgert sich darüber, dass es nicht klappt, unterdessen erhält er einen nervigen Anruf des Hausmeisters wegen der tropfenden Balkonunterseiten im Haus und ist genervt, da außerdem in der Post ein seitenlanges Formular ist, das er für die Berufsgenossenschaft ausfüllen soll. Er erwartet währenddessen Herrn L., der nur noch in großen Abständen kommt, da dieser den Hauptteil seiner Therapie bereits hinter sich hat. Der Therapeut denkt daran, dass Herr L. immer noch etwas schüchtern ist vor lauter Sorge, anderen Menschen – vielleicht auch ihm - auf den Wecker zu fallen. Klappe die dritte. Und sekundengenau darauf: Action. Der Therapeut geht beschwingt auf Herrn L. zu und sagt besonders aufgeräumt und heiter „guten Tag, Herr L., lange nicht gesehen !“  

Also da ich annehme, du hast das Prinzip verstanden, wenden wir uns jetzt tapfer der unbarmherzigen Analyse dieses etwas verrückt anmutenden und inhaltlich ziemlich inhomogenen, dafür minutengenau getakteten Tagesablaufes zu. Wir stellen fest, dass Therapeuten innerhalb weniger Stunden in verschiedensten Tonfällen, Stimmungslagen und Körperhaltungen stecken, dass sie sich kurz hintereinander als strenger Vater, als Nonne mit Schweigegelübde, dann als empathischer Kamerad und kurz danach als Boxer im Ring, als stillende Amme oder als Verteidiger im Gerichtssaal fühlen, der geduldig und zwanghaft-genau sein Plädoyer hält. Ein bisschen fühlt sich das an wie die Augsburger Puppenkiste, bloß mit nur einer einzigen Puppe und niemand klatscht. 

Eine der frühen Psychoanalytikerinnen, die unseren verehrten Siegmund FREUD als Lehrer hatten, beschrieb sogenannte Als-ob-Persönlichkeiten, womit sie zum Ausdruck bringen wollte, dass es sich um an fremde Erwartungen angepasste, Rollen spielende und sich selbst, ihren wahren Persönlichkeitskern verlierende Menschen handelt, die an ihren eigenen Bedürfnissen und Neigungen vorbeileben  und mit der Zeit gar nicht mehr wissen, welches diese Neigungen eigentlich sind. Ein ziemliches Horrorszenario hat sie da aufgezeichnet,  zumal diese Menschen dann von quälenden Leeregefühlen befallen werden, aber worauf ich hinaus will, ist: mit den Also-ob-Persönlichkeiten meinte sie ehrlich gesagt nicht die Therapeuten, sondern eine bestimmte Gruppe von Patienten! Getreu dem ubiquitären Psycho-Motto: „Sind wir nicht alle ein bisschen gaga?“ muss ich an dieser Stelle festhalten, dass die Also-ob-Persönlichkeit kein Monopol der Patienten ist, sondern sie findet sich jenseits des Ladentisches genauso. Doch sollte es da einen feinen Unterschied geben: die von dieser nicht gerade angenehmen Krankheit befallenen Patienten können nicht anders, wohingegen die Therapeuten nur so tun, als könnten sie nicht anders. Eine der besonders aufmüpfigen Päpstinnen der Tiefenpsychologie* hat den bemerkenswerten Spagat zwischen echten Gefühlen und innerer Distanz genau studiert und dessen ständige Gewahrwerdung sogar den Therapeuten empfohlen, wie eine besonders komplizierte Art des Schauspielerseins. Als ich diesen Gedanken zum ersten Mal in einer Supervisionsgruppe einfließen ließ, erntete ich moralinsaure Blicke, aber die empörte Unterhaltung wurde dann wenigstens so lebhaft, dass die Zeit wie im Fluge verging, und ich muss gestehen, ich selbst habe auch ein paar Jährchen gebraucht, bis ich den tieferen Sinn dieses gottes-, nein, therapeutenlästerlichen Konzepts nicht nur einigermaßen verstanden, sondern auch akzeptiert und für gut befunden habe.

Aufziehpuppen sind die Therapeuten aber trotzdem (irgendwie, ein Stück weit, um mal ein paar termini technici einfliessen zu lassen): das kommt von den stundenweise wechselnden Patienten, die es doch immer wieder schaffen, eine neue Stimmung im Therapeuten hervorzurufen. Aber wenn es gar zu doll wird, sollte man sich meiner Meinung nach als Behandler gelegentlich der Vorzüge des absichtlichen Rollenimitierens erinnern, sonst reiht man sich irgendwann dann doch in die Reihe der echten Als-ob-Persönlichkeiten ein und darf beim Versorgungsamt um eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit ersuchen. Das Konzept seiner Schülerin fand unser großer Siegmund F.  übrigens nicht wirklich schlecht, allerdings fiel die gute Helene D. später seinem Spott anheim, eine Feministin zu sein. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass die weiblichen Exemplare der Therapeutenzunft (und das sind wirklich sehr viele!) doch eher von der Als-ob-Persönlichkeits-Krankheit befallen werden als ihre männlichen Fachkollegen. Ob das daran liegt, dass die Frauen ihren Schutzbefohlenen immer so nahe sein zu müssen glauben, ist wissenschaftlich noch nicht belegt.

*E. JAEGGI, 2001: Und wer therapiert die Therapeuten ?




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