f Psychogeplauder: Auf Bergen leben

Freitag, 1. Januar 2016

Auf Bergen leben



"Von  sich  absehn  lernen  ist  nötig, 
um  viel  zu  sehn – diese  Härte  tut  jedem  Berge-Steigenden  Not" *
( NIETZSCHE:  Also  sprach  Zarathustra Teil 3 – Der  Wanderer)


Eine ziemlich anstrengende Sache ist die mit der Abstinenz. Das sogenannte Abstinenzgebot verlangt
vom Psychotherapeuten, dass er sich während seiner Arbeit nicht under cover eigene Bedürfnisse erfüllt; ätsch, wird jeder in anderen Metiers arbeitende Mensch an dieser Stelle anmerken, habt Euch doch nicht so, ihr Therapeuten, oder dachtet ihr, ein Postbediensteter hinterm Schalter, ein chirurgischer Chefarzt, der seit fünfeinhalb Stunden übermüdet in einer alkoholkranken Leber herumwurschtelt, oder eine Mathelehrerin in der zehnten Klasse (das ist meistens, wie ich mir sagen ließ, die Schlimmste), deren Stimmfarbe dem Lautstärkepegel von 29 Möchtegernidioten unterliegt, erfüllen sich beim Arbeiten persönliche Bedürfnisse? 

Aber so einfach ist die Lage nicht. Möglicherweise ist der Chefarzt zufällig ein Mensch, der gerne Macht hat und der seine überschießenden Aggressionen statt in überhöhte Geschwindigkeit beim Autofahren in sterilisierte Skalpelle und blutspritzende Schnitte bettet. Und der Postbedienstete hat vielleicht früher, als kleiner Schuljunge, Briefmarken gesammelt und schwelgt in Zählen, Abtrennen und Zusammenfassen jeder erdenklichen Quittungen, Päckchenaufkleber, selbstklebenden Brief- und Paketmarken. Beide werden ihre Sache gut, vielleicht sogar ein Quäntchen besser machen, wenn sie sich bei ihrer bezahlten Tätigkeit einer Vorliebe bedienen, die sie schon früh in ihrem Leben entwickelten. Ich hatte mal einen Zahnarzt, zu dem ich jahrelang ging; ich war begeistert davon, wie genau, gewissenhaft und unermüdlich er jedes Mal die Zähnchen kontrollierte. Bei meinem letzten Besuch sagte er, über meinen offenen Mund gebeugt: „Ach, ich werde so sooft gefragt, immer wieder den Leuten in den Mund gucken – ob mir das noch gefiele! Ich muss sagen, ich wollte schon mit acht Zahnarzt werden, und ich find´s immer noch jedes Mal so richtig toll, das ist genau meins!“ Wenige Monate später ist er einem akuten Hinterwandinfarkt erlegen und ich vermute, er starb zwar früh, aber glücklich. 

Da stellt sich, wegen der gebotenen Abstinenz, die Frage, ob richtig gute Therapeuten und solche, die ihre Arbeit so richtig gerne machen, überhaupt eine Schnittmenge bilden können.

NIETZSCHEs Gebot des Von-sich-absehn-Lernens, das in seinem Zarathustra den Wanderer resumierend und schicksalsergeben die daraus folgende Einsamkeit formulieren lässt, birgt eine große Herausforderung des Therapeutenberufes: sich selbst als Person systematisch in den Prozess hineinzutragen und zugleich sich selbst als Person ständig wieder herauszunehmen – ein Spagat der Sonderklasse, widersprüchlich, auf ständige Reflektion und Abwägung eigener Wünsche angewiesen, permanent potentielle Schuld-gefühle generierend und asketengleich.

Bei Abstinenz denkt der Laie und manchmal auch der unvoreingenommene junge Therapeut an die Sexualität. Das Problem bei der Wahrheit ist: Wir erkennen sie oftmals in ihrem wahren Umfang nicht. Wir verständigen uns auf Kompromisse. Gerade die Frauen unter den Therapeuten, und in den aktuellen Ausbildungsgängen sind das knapp 80% mit steigender Tendenz, glauben, wenn sie einen männlichen Patienten (oder wenn sie lesbisch sind, eine Patientin) nicht erotisch verführen, dann hätten sie ihre Abstinenzaufgabe erfüllt und könnten für den Rest ihrer beruflichen Tätigkeit mit moralischem Unterton die Sitten bewachen – die Sitten der anderen, vorzugsweise ihrer männlichen Kollegen. Genau wie es das Klischee vorgibt, scheint es auch tatsächlich zu sein: die weitaus meisten Grenzverletzungen sexueller Natur geschehen in der Psychotherapie durch männliche, schon etwas ältere, oft mit hohem beruflichem Prestige und Erfahrungsschatz ausgestattete Therapeuten. Diese Entdeckung schreit doch fast danach, nach anderen, fraglich weiblicheren Formen der Abstinenzverstöße zu fahnden! Und, tatsächlich, es gibt sie, die in den Niederungen und Tiefen des eigenen Ego´s watenden Verstöße, die aber, da nicht sexuell manifestiert, oft weniger auffallen. Und manchmal sogar gar nicht. Denn sie verstecken sich gekonnt: für das Auge des Patienten, seiner Therapeutin und gelegentlich sogar der nicht ganz unbestechlichen, weil von der Bedürftigkeit des oft anstrengenden Patienten entlasteten Umwelt sind sie typischerweise unsichtbar: sie treten auf im Gewand der warm- und barmherzigen, engen und langjährigen therapeutischen Zweierbeziehungen, der Therapieverlängerungen nicht trotz, sondern wegen noch bestehender Erfolglosigkeit, der man sich nicht beugen mag, der manchmal ein ganzes Jahrzehnt umspannenden Selbst-zahlerbehandlungen, deren Verlässlichkeit und subjektive Bedeutung schier religiöse Dimensionen erreicht. So wichtig für einen Patienten zu werden, dass dieser gar nicht mehr von der Seite des Therapeuten weichen mag oder kann … ist eine höchst verführerische Sache. Ihn nicht „wegzuschicken“, da man glaubt, den Patienten damit ins Unheil zu stürzen, oder, zumindest, von ihm nicht mehr gemocht zu werden. Rent a friend nannte es einmal eine Dozentin, und an dem sofort einsetzenden leisen Gekicher und Gemurmel im Raum konnte man damals ablesen, dass das gar nicht zum Kichern war und jede der – wieder einmal überwiegend weiblichen - Zuhörerinnen wusste es. Therapeuten sollen ja laut Statistik überzufällig oft Erstgeborene sein. Und während die späteren Nachkömmlinge die Familienzusammensetzung ja schon mit ihrem ersten Atemzug vorfinden, haben die Erstgeborenen die unerwartete Erfahrung ein- oder mehrfach gemacht, dass sie die Mutter, die Kinderbücher und das Nutellaglas plötzlich teilen müssen und nicht mal gefragt wurden. Wie schwer mag es da sein, dem Sog des Gebrauchtwerdens zu widerstehen. Und eine Beziehung nur für sich allein zu haben.

"Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis du auch deine Sterne noch unter dir hast!" *

Auch wenn sich der gotteslästerliche Pfarrerssohn Nietzsche jetzt vermutlich energisch distanzieren würde, warnt mich bei dem Thema ein Bibelspruch: „Wer ohne Sünde unter Euch ist, der werfe den ersten Stein!"

Auf jeden Fall scheint es sich trotz der vielen Fallen, die uns das Unbewußte oder die eigene Bequemlichkeit aufstellen, zu lohnen, sich zumindest um Abstinenz zu bemühen. Und wenigstens bei dieser Überlegung hätte ich Nietzsche wohl ganz auf meiner Seite.


"Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können." *




*alle Textstellen aus : 
NIETZSCHE:  Also  sprach  Zarathustra Teil 3 – Der Wanderer


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