In einem Umfeld, das sich der professionellen Betreuung und Behandlung von Menschen mit seelischen Problemen widmet, ist es erwartbar, dass die Kommunikation zugewandt und einfühlsam ist. Darüberhinaus lässt sich unschwer beobachten, dass die Beteiligten auch gewährend und versorgend eingestellt sind. Um diese medizinsoziologisch auf den ersten Blick logisch erscheinende, auf den zweiten Blick aber brisante Thematik ein wenig alltagstauglicher darzustellen, erlaube ich mir im folgenden, einige Facetten konkret herauszugreifen, die sich in unserem Lande ubiquitär finden lassen.
Da haben wir folgende beteiligten Systemmitglieder: den Patienten, den ambulanten Therapeuten, die Krankenkasse, den Gutachter, die Klinik. Das ist natürlich nicht vollständig, sondern aufgrund einer gewissen häufig beobachtbaren Hybris des promovierten Psychoexperten lasse ich jetzt andere Systemmitglieder weg, die gelegentlich sogar mehr beitragen als das Gros der oben Genannten: da wären also darüberhinaus die Arzthelferinnen des Psychiaters, die Klinikseelsorgerin, der Kliniksozialarbeiter, die Yogalehrerin, die Rentenberaterin, der Hausarzt und der Heilpraktiker. Desweiteren sind hier zahlreiche Ehemänner und –frauen zu nennen, die die ganze Seelensache ihres Partners ja direkt an der Front ausbaden. Und das Tag für Tag. Aber genug dieses kümmerlichen Versuchs einer umfassenden Darstellungsweise; die Sache ist komplex genug.
Fragst du, als bereits durch drei ambulante Psychotherapien und zwei psychosomatische Heilverfahren hindurch gegangener Held, bei deiner gesetzlichen Krankenkasse nach, dann erfährst du: Aber selbstverständlich können sie eine weitere Psychotherapie bekommen. Wenn der Therapeut das beantragt – ist das kein Problem! Warum auch. Der Kosten-Nutzen-Koeffizient von Psychotherapie liegt bei 3,26. Für jeden Euro, den die Kassen da ausgeben, werden an anderer Stelle 3 Euro 26 für die Volkswirtschaft eingespart - durch weniger Krankengeld, weniger unsinnige Körperdiagnostik und weniger stationäre Aufenthalte oder weniger vorzeitige Rentenzahlungen. Das gibt zu denken. Return of investment heißt das. Sagt einer meiner Neffen.
Begibst du dich als Patient zu einem Erstgespräch bei einem Therapeuten und fragst ihn, ob ihm eine Psychotherapie helfen könnte und er dir zu einer Therapie raten würde, dann erfährst du in aller Regel: Aber selbstverständlich sollten sie (!) da etwas tun. Der Indikationsbereich für Psychotherapie ist sowas wie ein schwangerer Bauch: er wächst und wächst und bläht sich auf. Neuerdings dürfen Psychosen in allen Stadien auch behandelt werden, Demenz im frühen Stadium, Alkoholiker, wenn sie es schaffen, zehn Wochen lang ihre Leberwerte herunterzufahren, und liebeskranke Studenten, die nicht mehr lernen können. Allerdings, um bei dieser Metapher zu bleiben, irgendwann ist auch die längste Schwangerschaft zu Ende und dann fällt die Sache in sich zusammen wie ein Souffle´, in dem einfach zu viele Eier gewesen sind.
Begibst du dich ins Netz, weil du mal raus willst und Ärger mit deinem neuen, fünfzehn Jahre jüngeren Chef hast und überhaupt die Nase voll, dann triffst du auf elegant konzipierte Webseiten privater Kliniken, du fragst dann telefonisch an, ob das wohl die Kasse bezahlt, und die netten Mitarbeiter von der Klinikhotline sagen: Aber selbstverständlich, machen sie sich da mal keine Sorgen, da schicken wir ihnen einen Bogen zu, da ist schon alles vorformuliert, ihr Arzt muss da nur noch ihre Daten einsetzen.
Als gesetzlich versichertes bodenständiges Wesen musst du auf so einen Klinikaufenthalt möglicherweise etwas länger warten, aber da gibt es Tricks, wie du doch schneller reinkommst, also zum Beispiel bist du dann eine sogenannte Akutaufnahme. Eigentlich geht es dir so wie jetzt schon seit sieben Jahren, und deine ambulante Therapie, zu der dich deine genervten Freunde überredet haben, ist gerade erst angelaufen, weil du lange gebraucht hast, dich auf so eine Psychoschiene einzulassen; aber selbstverständlich, wenn ihnen das ihr Therapeut bescheinigt, ist das mit der Akutaufnahme gar kein Problem! Und er bescheinigt, na klar. Man will ja die frische, noch knospende Therapeut-Patient-Beziehung nicht unschön beeinträchtigen.
Wenn dann der Klinikaufenthalt rum ist, was die meisten Klinikaufenthalte irgendwann tun, dann wird dir der Entlassungsbrief mitgegeben, und auf dem steht dann, dass dringend weiter ambulante Therapie gemacht werden soll. Der ambulante Therapeut deines Herzens sagt, wir müssen nach den Vorgesprächen erstmal auf die Kostenübernahmezusage der Kasse warten, aber wenn du ein bisschen winselst, dann sagt der Therapeut bestimmt, okay, dann fangen wir schon vor der Zusage an, eigentlich wäre das dann ihr finanzielles Risiko, aber okay, ich glaube, das kann ich schultern. Dann kommt in ca 96 % die Zusage, empfohlen durch den Gutachter. Obwohl ein namhafter Vertreter der Psychotherapiegutachter-Innung vor einigen Jahren öffentlich bekannt hat, dass sich bei etwa einem Drittel der Psychotherapieanträge trefflich streiten ließe, ob da wirklich Krankheitswert vorliege, um den sich die Solidargemeinschaft kümmern müsse – lehnen sie doch nur die wenigsten Fälle ab. Und sollte es mal passieren, dann schreibt der Therapeut einen bösen Brief und der Patient auch, und dann wird die Sache einem Obergutachter vorgelegt und der dreht und windet sich und sagt dann, ja, also erst ging es nicht anders, mein Kollege konnte nicht anders als ablehnen, aber jetzt… also, nach diesen Ergänzungen, kann ich das dann doch befürworten.
Knifflig könnte es doch nochmal werden, und zwar dann, wenn der Therapeut Ausfallhonorar verlangt. Aber auch hier gibt es wundersame Wege der gütlichen Einigung. Zum Beispiel sagst du als Patient per mail ab, obwohl der Therapeut dir gesagt hat, bitte nur telefonisch und möglichst persönlich, spätestens 24 Stunden vorher, aber du probierst es mal so. Du sagst also vier Stunden vorher mit einem Dreiviertelzeiler ab, obwohl du weißt, dass dann das Ausfallhonorar fällig wird, aber dann hast du doch noch Glück, weil der Therapeut mailt zurück, also gut, ausnahmsweise, weil bald Weihnachten ist, brauchen sie doch nichts bezahlen.
Manchmal ist es auch so, dass der Therapeut Zweifel hat, dir sagt, da fehlt mir ein Behandlungsauftrag, ich erkenne nicht, woran sie arbeiten wollen oder ob sie sich wirklich verändern können. Aber naja, gut, wir können ja mal eine Kurzzeittherapie beantragen, zur Probe. Und wenn die rum ist, denkt der Therapeut immer noch, da fehlt mir ein Behandlungsauftrag, ich erkenne nicht, woran der Patient arbeiten will und ob er sich wirklich verändern kann. Er erzählt das seiner kollegialen Intervisionsgruppe. Es ist das selbe Gefühl, das er schon zu Therapiebeginn hatte. Nur noch ein bisschen sicherer. Und dann endet die Beratung mit der seufzenden Überlegung, naja, ich habe ihm schon so gut wie zugesagt zu verlängern. Und ich kann ihn doch nicht einfach wegschicken!
Wohin man blickt in unserem Lande, allerorten sieht man Maulkörbe, die dazu dienen sollen, auf keinen Fall seelisch Schwache oder Hilfsbedürftige zu übersehen, und niemals jemandem unrecht zu tun, das ist ja schon einmal passiert, im ganz großen menschenverachtenden Stil, und da ist man, aufgrund der neueren Geschichte sensibler geworden, lieber auf der sicheren Seite. Und wir alle flechten die Maschen des Psychokorbes präventiv enger. Darin verfangen sich dann, wer will´s verübeln, auch zuweilen Personen, die gar nicht schwach sind. Von Mitarbeit, Motivation, Konfrontation und Frustration ist immer weniger die Rede. Stattdessen von Angeboten. Von lichtdurchfluteten Klinikfoyers, Dreigang-Wahl-Menüs, sich freuenden erfahrenen Therapeuten mit ganzheitlichem Ansatz (mit was denn sonst?) und wahlweiser Angehörigeneinquartierung zum Pauschalpreis, inclusive Schwimmbadbenutzung und Giga-Mega-Saunalandschaft.
Nichts zieht so gut wie die aufmunternde Einladung zur Regression mit der Aufschrift Arbeit an sich selbst.
Nichts zieht so gut wie die aufmunternde Einladung zur Regression mit der Aufschrift Arbeit an sich selbst.
Kein Wunder, dass sich die Inhalte der Psychotherapie so oft darum drehen, dass der Patient Neinsagen lernt und sich abgrenzt. Irgendeiner im System muss sich ja schließlich dieser Psycholücke annehmen.
Das ist mir aus dem Herzen gesprochen, leide ich doch auch gelegentlich so unter einem Maulkorb und würde gern mal NEIN sagen als Therapeutin, in der einen oder anderen Situation, oder wenn der Krankheitsgewinn so alles überstrahlt.
AntwortenLöschenAber als Teil dieser “Maschinerie“ ist das oft nicht leicht und es müssen auch die Therapeuten und besonders die mit großem Herzen ausgestatteten -INNEN das NEIN-Sagen lernen und die Angst vor Therapieabbruch, Rufschädigung und Existenzangst überwinden.
Liebe Kollegin, danke für Ihren Kommentar.
AntwortenLöschenes freut mich, dass Sie einen Teil Ihrer Erfahrungen da wiederfinden in meinem Text. Klar, ich habe das geschrieben, weil ich es natürlich auch von mir selbst kenne - den Spagat zwischen Verständnis zeigen und Fordern von Einsatz beim Patienten. Viel Geduld und Erfolg bei Ihren Versuchen, da immer authentischer zu werden mit der Zeit.