f Psychogeplauder: Jetzt wird´s verwegen! (Psychohygiene am Käsestand I)

Donnerstag, 13. August 2020

Jetzt wird´s verwegen! (Psychohygiene am Käsestand I)


Eros  grüßt  am  Käsewagen


Das Thema Psychohygiene für Psychotherapeuten ist in aller Munde, und es ist nicht nur hip, sondern in den letzten Jahren quasi unerlässlich geworden, dazu bereits während der Ausbildung angehender Psychoklempner einschlägige Tipps und Kenntnisse zu vermitteln. Die Erfahrungen aus der pädagogischen Didaktik zeigen allerdings auch, dass die Vermittlung von Wissen nur eine kurze Halbwertszeit besitzt, verglichen mit der Vermittlung von Fähigkeiten. Überhaupt ist es zweifelhaft, zum Thema Burnoutprophylaxe und Psychohygiene für Therapeuten bloß Seminare und workshops anzubieten („bitte bringen Sie eine Matte mit und locker sitzende Kleidung sowie die Bereitschaft zur Selbsterfahrung“). Das kostet Geld, Zeit und Nerven und ist, rein investitionsmäßig, zunächst einmal ein weiterer Stressfaktor, jedenfalls nüchtern betrachtet. Der persönliche teilnehmerbezogene Ertrag solcher Fortbildungsmaßnahmen muss ja entsprechend hoch ausfallen, damit beim Gegenrechnen schwarze Zahlen geschrieben werden können. Da lob´ ich mir Ansätze, die den Therapeuten befähigen, sich aus Alltagssituationen, wie sie das Leben so gibt, Ressourcen der seelischen Erholung zu basteln, Blüten konstruktiver Existenzgestaltung im platonischen Sinne, Oasen der Lebensfreude inmitten ganztägig mitgefühlten, differenziert durchgesprochenen und professionell hin- und hergewendeten irdischen Leids.

So ging es mir einmal während der Osterwoche, an einem an sich harmlosen Gründonnerstag. Vormittags noch vier Sitzungen, zwei davon akzeptabel, eine davon hoffnungslos dilettantisch, eine so mittel. Danach hatte ich bereits osterfrei, wegen Terminausfällen durch Ferien meiner Patienten. Ich bringe also noch den Müll raus und gieße die Pflanzen, alles schon in dieser nur zweimal im Jahr, nämlich zu Ostern und zu Weihnachten, sich einstellenden Festtagsstimmung, die bewirkt, dass man die kleinen anfallenden Alltagspflichten etwas feierlicher und bedächtiger erledigt und sie, die freien Tage vorm erholungssehnsüchtigen Auge, sogar genießt. Nochmal die E-Mails checken: da haben die Berufsverbände doch tatsächlich erreicht, dass die kassenärztliche Vereinigung Null Komma fünf cent pro Stunde für alle Therapiesitzungen der letzten 16 Jahre nachlegt; Freude über Freude. Das Leben ist schön. Es ist nichts im Visier außer den kommenden vier freien Tagen, also ich habe schon in so einer Art geheimer Feierlaune nachmittags kurz nach drei die Praxis verlassen und blinzele auf meinem beglückt angetretenen Fußweg nachhause in die unerwartete, noch zögerliche Märzsonne. Artig unterwegs Gemüse eingekauft für das abendlich geplante Nudelgericht. Und dann passiert´s.
Ich denk´ mir nichts dabei, als ich beschließe, wegen Sonne und Feierabendstimmung und so weiter, den kleinen Umweg über den Donnerstagmarkt zu machen, das ist ein besonders netter kleiner Markt, den ich wegen meiner Praxisarbeitszeiten ja sonst nicht so oft besuchen kann, und ich denk´ mir dann doch was, ich denke nämlich: diese Freiheit nehm´ ich mir! Ich betrachte noch so halbinteressiert die etwas überteuerten Blumen, schon vieles verkauft worden heute vorm morgigen Karfreitag, die einzelnen Stände haben Lücken im andächtig drapierten Warenangebot. Kehrausstimmung. Es gibt einen Wagen mit angeblich besonders gutem dampfendem Espresso, Alkohol seh´ ich nicht, aber die ganze Szenerie fühlt sich trotzdem so an, als sei der nicht weit. So circa zwanzig Leute, bevorzugt Einzelpersonen (Psychotherapeuten auf dem Weg nach hause?), sind noch unterwegs, keiner will schon gehen, wer jetzt geht, bricht ja quasi schon die vier Feiertage an, und die sollen, bitteschön, unbefleckt wie die heilige Maria noch lange vor einem liegen. Eigentlich ist es noch ziemlich kalt, aber für eine gute Show bist du bereit, da noch ein bisschen länger draußen zu bleiben. Erster Käsewagen, zwei männliche Verkäufer, die nix zu tun haben, der ganze Käse in Einzelportionen abgepackt in dieser dicken, aber lebensmitteltechnisch einwandfreien, hygienisch mumifizierenden Klarsichtfolie, also erotisch kommt da nichts rüber, dementsprechend steht da auch kein einziger Kunde. Und dann kommt sie, wie aus dem Nichts, die gute Show, am Käsewagen nebenan. Schon von weitem wogt die meterlange Blechablage für die Taschen der Kunden auf und ab, was, wie sich innerhalb der nächsten Sekunden herausstellt, mit dem Übergewicht der im Wagen hin- und hergehenden Verkäuferin zu tun hat. So denke ich an ein Dampfschiff auf dem Mississippi. Erweckung der Lebensgeister. Letztes Aufbäumen vorm Nachhausegehen: Eigentlich brauche ich nichts und ich stelle mich deshalb einfach mal an. Links eine Minireihe mit zwei Männern, die sich geduldig hinter eine einkaufende Mutter mit Söhnchen gestellt haben, rechts eine Minireihe mit einem Mann vor mir und jetzt komme ich dazu. In Kürze wird es also zwei gegen zwei stehen, wobei aber nur eine Verkäuferin da ist und man sich fragt, wie wird das wohl ausgehen. Verspricht interessant zu werden. Da ich noch gar nicht weiß, wo die spontane Käsereise hinführt, beschließe ich, jetzt mal in aller Ruhe zuzuhören, was die anderen so nehmen, und die Auslage zu betrachten, um zu registrieren, was das Käseleben heute so bietet. Quasi Amazon, nur live mit echten Typen.
Die einkaufende Mutter scheint mir ziemlich diffizil, um nicht zu sagen kleinteilig unterwegs; erst ein Stückchen von diesem, aber nicht soviel bitte, und dann ein Stückchen von jenem; jetzt möchte sie noch Ziegenkäse für Nudelsalat; das gefällt der Verkäuferin nicht wirklich, man merkt es gleich, obwohl sie zunächst nur subtile Andeutungen käsefachlicher Zweifel äußert. In schönstem fremdem Dialekt, den ich so zwischen Saarland, Elsaß und Pfalz ansiedeln würde, fängt sie an reinzufunken ins einkaufende Hoheitsgebiet: Hmm, Ziegenkäs für Nudelsalaat – Ziegenkäs für Nudelsalaat – ich find des jetzt net sooo optimaal. Also da würd ich eher einen Bergkäs empfehlen. Also, wenns halt schon würzisch sein soll. Aber Ziegenkäs für Nudelsalaat – würd ich jetzt net so als erste Wahl betrachten. Die einkaufende Mutter, vermutlich Stadträtin oder Lehrerin mit Fünfteldeputat, wird trotz ihres bisherigen taff dargebotenen Vortrages leicht unsicher; die Verkäuferin gibt ihr, mit einem riesigen Messer, ein Stückchen würzischer Bergkäs, den hat sie mit der Spitze aufgespießt und streckt ihn stolz nach vorn über die Theke wie einen Phallus; bitteschön, sie wolle ja net die Katz im Sack kaufe! Sie kann die Fünftellehrerin überzeugen, also wird der Ziegenkäseauftrag gelöscht und in einen Bergkäseauftrag umgewandelt, aber nicht soviel bitte. Die beiden männlichen Linksaußen hinter ihr machen Gesichter, die von perfekter Melange aus Ungeduld, tiefem Verständnis für kulinarische Problemstellungen, kinder- und stadträtinnenlieber Menschlichkeit und rollenden Augen künden. Jetzt wird der Sohn Julius gesucht. Julius, du wolltest doch noch ein gefärbtes Ei! Hast du dich denn jetzt für die Farbe entschieden? Alle Wartenden drehen sich um und schauen, wo Julius steckt. Sagen wir, aus Eigennutz, weil es könnte ja langsam mal vorangehen hier, aber auch aus ehrlichem Interesse. Welche Farbe wird er nehmen? Julius wird schließlich gesichtet, her zitiert und gibt sein Votum ab: blau! Während die Verkäuferin schonmal den Anlasser betätigt und ihren gewichtigen Körper von der linken Seite des Wagens Richtung rechte Seite, zum Ostereierkarton, wuchtet, sagt sie begeistert: Ein blaues Ei für Julius! und es beginnt außerdem der ganze Wagen zu wackeln. Als sie zurück ist, wickelt sie zunächst den Bergkäs ein, mit devot nach unten gesenktem Kopf, man merkt, da arbeitet noch etwas in ihr, und sie murmelt, also, sie hamm da bestimmt keinen Fehler gemacht mit dem Bergkäs – also, nach meinem Gedankengang! Der Stadträtin fällt ein, dass sie noch ein zweites Ei möchte. Jetzt wird’s spannend. Julius, im Gegensatz zu vorhin nun bei Fuß, darf nochmal wählen. Pink! Ein pinkenes! schreit die Verkäuferin überrascht, setzt sich erneut in Bewegung und fügt hinzu: Jetzt wird’s verwegen! 
Schließlich bin ich an der Reihe, und so kauf´ ich einen Münster, den habe ich schon die ganze Zeit so herrenlos da liegen sehen, und frage, weil es wird eine gewisse Investition sein, wieviel das ganze Stück denn wiege, ein bisschen viel, aber dann denke ich, was soll´s, dann wird’s halt verwegen, und ich lasse mir das riesige Teil einpacken und muss dann, leider, bedauernd mich trollen. Auf dem Heimweg denke ich, was für wunderbare Probleme in den vergangenen knapp 20 Minuten am Käsewagen gewälzt, diskutiert und schließlich überwiegend zufriedenstellend gelöst wurden. Und dass die üblichen Probleme, die in meiner Praxis zu wälzen sind, doch eine ganz andere, irgendwie bedrückendere Beschaffenheit haben.

Nach dem Bezahlungsvorgang war das Ende des ersten Aktes erreicht; übrigens wurde es an dem besagten Donnerstag nichts mehr mit dem geplanten Nudelgericht und dem stressigen Schnipseln gesunden Gemüses. Als ich heimkam, roch mein Münster schon so extrem, dass es nur eine wahre Gestaltungsmöglichkeit gab: die Einleitung des zweiten Aktes, ein gut gekühlter Weißwein musste her und der Käse gleich gegessen, das war ein voller Genuss und aus olfaktorischen Gründen dringlich geboten. Eros duldet keinen Aufschub, und bis zum nächsten zertifizierten Psychohygienekurs im Herbst ist es ohnehin noch bedenklich lange hin.







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