f Psychogeplauder: Aufgehobensein (Religion III)

Donnerstag, 24. März 2016

Aufgehobensein (Religion III)



















Was Kuscheliges zu Ostern.
Anne war retro. Ich hatte das Gefühl, als käme sie aus einer anderen Zeit. Manchmal lernst du jemanden kennen, der eine Art von Sicherheit ausstrahlt, die unerschütterlich erscheint.
Ich meine damit nicht ein selbstsicheres Auftreten, das bei manchen Menschen durch ihre Herkunft, durch in Businesskursen antrainiertes Verhalten oder durch ihren erworbenen materiellen oder Bildungsstatus begründet ist. Ich meine mit Sicherheit dieses In-Sich-Ruhen, als gäbe es ein unsichtbares, aber für mindestens 1000 Kilogramm tragfähiges Wertesystem, das nicht einbricht, sich nicht biegen lässt, nichts zu Markte trägt und nicht missionarisch unterwegs ist. Ein tiefgegründetes Aufgehobensein in der Welt, verbunden mit weitgehender Angstfreiheit, resistent gegen Zeitgeist, Trends und Sensationen. 
Ein Traum. 
Sie kam auf Intervention ihres Hausarztes, eines ausgesprochen sympathischen und engagierten Mannes, der die Kümmernisse und familiären Verhältnisse seiner Patienten bewundernswert gut kannte. Anne kannte er schon viele Jahre und sie war ihm eines Tages in seiner Praxis aufgefallen; an diesem Tag war in der Praxis mehr los gewesen als sonst und entsprechend stressige Stimmung, eine Arzthelferin war genervt gewesen von all der anfallenden Arbeit und den vielen ungeduldig wartenden Patienten, so dass sie mit einem etwas schroffem Ton eine Routine-Untersuchung bei Anne durchgeführt hatte. Anne hatte sich daraufhin in eine Ecke der Praxis gestellt und geweint. Sie hatte geweint mit dem Rücken zum Raum, so wie diese kleinen Mädchen, die in den Fünfzigerjahren zum Sich-Schämen von der Kindergärtnerin des kirchlichen Kindergartens in die Ecke geschickt wurden. Daraufhin hatte der Hausarzt mit Anne trotz Zeitdruck noch ein kurzes Gespräch eingeschoben, hatte erfahren, dass sie sich frage, warum die Arzthelferin nicht so freundlich gewesen sei wie sonst üblich, und er hatte sich über Annes „Dünnhäutigkeit und Kindlichkeit“ gewundert. Die Entscheidung, Anne zu mir schicken, fiel aber erst einige Tage später, als er einen Anruf seines orthopädischen Kollegen erhielt, der ihm genau die gleiche Eckenheulaktion bei Anne geschildert hatte. Sie schien Hilfe zu brauchen. 
Anne trug meistens Kostüme, ein bisschen altmodisch mit Röcken bis auf´s Knie, zurückhaltend aber schön, so von der Art, wie du sie dir vielleicht in einigen alten Filmen noch betrachten kannst an Protagonistinnen, die einen offizielleren Beruf verkörpern. Ich erinnere mich, sie einmal gefragt zu haben, ob sie die Kostüme schneidern lasse, da ich mir nicht vorstellen könne, wo man sie käuflich heutzutage erwerben könne. Sie wirkte erstaunt; nein, das seien keine besonderen Anfertigungen. Wenn sie ein neues Kostüm brauche, dann gehe sie in ein bestimmtes Kaufhaus, und da probiere sie die Modelle an, und wenn eines zu ihr passe, dann kaufe sie es. Sie finde immer eines, was passe. Annes Sprache war, ihrer Intelligenz und ihrem Beruf, in dem sie viel reden und schreiben und englisch telefonieren musste, zum Trotze, von einer betörenden Einfachheit. Da tauchten keine modernen Wörter, halbangefangenen Gedanken oder wabernden Ich-denk´mal- Phrasen auf. Es waren Sätze von kristalliner Klarheit, so wie auch die Überlegungen, die dahinter standen. Sie hatte einen Mann, mit dem sie seit langem verheiratet war, und bewohnte eine nicht besonders spektakuläre Wohnung. Aus ihrem Kinderwunsch war wegen einer frühen Erkrankung ihrer Eierstöcke nichts geworden. Sie wirkte darüber nicht bitter, nur manchmal ein wenig traurig. Jede Woche besuchte sie mit ihrem nicht besonders spektakulären Auto ihre Eltern, die beide die 80 überschritten hatten. Sie hatte ein herzliches Verhältnis zu ihrer Mutter, das nicht nur vom Lieblingskuchen und Kind, brauchst du was oder Mutter, brauchst du was, lebte. Mit ihrer Mutter führte sie Gespräche, manchmal über deren, manchmal über die eigenen Probleme, und zuweilen auch über die Welt, und da kam oft mehr heraus, als wenn man die Inhalte mehrerer anspruchsvoller Talkshows zusammenrechnet. Sie liebte ihren Vater. Vor dem Tod der Eltern hatte sie dennoch keine Angst. Wenn sie abberufen würden, dann sei dies richtig. Warum solle sie dann klagen und weinen? Sie verstehe ohnehin die vielen Menschen nicht, die sich mit dem Älterwerden schwer täten und die an runden Geburtstagen in Stimmungskatastrophen schlitterten. Solches Erleben sei ihr fremd, sagte mir Anne einmal, und fügte strahlend hinzu: es sei doch ein Anlass zum Feiern und zur Freude, wenn man wieder ein Jahr älter geworden sei und so seinen Geburtstag wieder feiern könne. Der Moment, als sie so zu mir sprach, hat sich mir eingebrannt. In vielen Belangen erschien mir Anne gefestigter und gesünder als die meisten anderen Menschen, einschließlich mir selbst. 
Wir konnten herausarbeiten, dass sie aktuell kurz davor schien, ihre Sicherheit zu verlieren, am Arbeitsplatz intrigierte man nämlich gegen sie. Wie so oft, wenn die Arbeitsverträge, um nicht zu sagen, die darin aufgehobenen Menschen, aufgrund langer Laufzeit zu „teuer“ werden, wird auf den Menschen solange herumgetreten, bis sie mehr oder weniger freiwillig gehen. Anne verband mit der Therapie bei mir nicht etwa den Wunsch, zu kündigen, krankgeschrieben zu werden, arbeitsrechtliche Tipps oder therapeutische Beratung zu ersuchen (Wie kann ich mich besser wehren, ich will taffer werden!), sondern sie stand vor dem Problem, dass sie nicht begreifen konnte, was man mit ihr machte. Das Eckenheulen war so ein Ausdruck vorauseilenden Gehorsams, für den Fall, dass sie etwas falsch gemacht hatte, und gewährte ihr außerdem die Möglichkeit, sich aus der für sie unbegreiflichen Szene erst einmal heraus zu stehlen, um weiter zu atmen. Anne konnte sich nicht vorstellen, wie fies Menschen werden können. Daher hatte sie lange zugewartet, war nicht auf die Idee gekommen, ihre Mobbingssituation am Arbeitsplatz kritisch zu beleuchten. Sie wurde quasi kalt erwischt, unschuldig, sprachlos. 

Wenn sie kam, war es mir leichter als in vielen anderen Sitzungen mit Patienten, weil sie ihre eigene Sicherheit mitbrachte. Ich musste Anne nichts ausleihen. Weder Geduld, noch Interesse, die Dinge zu verstehen, noch Ehrlichkeit noch das Wahrnehmen tiefer Gefühle, noch Güte mit sich selbst. Bei Anne war alles da, feinsäuberlich.

Bei meiner Behandlungsplanung für Anne befand ich mich dennoch in einem Dilemma, das mich begann zu belasten: es war klar, dass sie den Realitäten am Arbeitsplatz ins Auge sehen musste, dass sie nicht zu naiv agieren durfte und lernen musste, dass es unwägbare menschliche Abgründe und sadistische Verhaltensweisen gab, dass es nicht immer zweckmäßig war, auf das Gute im Gegenüber zu bauen und dass es manchmal nötig war, strategisch statt wahrhaftig aufzutreten. Andererseits wollte ich ihr Bild von der Welt nicht erschüttern. Ich wollte ihr möglichst wenig wegreden von ihrem Glauben an das Gute und von ihrem Urvertrauen, welches sie so lange durch ihr reiches Leben getragen hatte. Wir fanden einen Ausweg:  Anne begann über Mobbingmechanismen zu lesen, keine Opfertröstungsselbsthilfebücher, keine Ich-mach-meiner-Wut-Luft-Dokumentationen, sondern differenzierte Darstellungen darüber, was die Opfer, aber auch was die Täter bewegt. Das half ihr. Sie fühlte sich mit Geduld und Durchhaltevermögen ein in beide Seiten und auf diese Weise gelang es ihr sogar, ihr Bild von der Welt und den Menschen zu bewahren. Die Täter waren auch Opfer. Sie entwickelte Verständnis für sie, manchmal ein bisschen zu viel für meinen Geschmack, aber das Eckenheulen war hierdurch überflüssig geworden und wurde durch besonnenes tapferes Durchstehen der Situation ersetzt. 

Lange hatte ich es vermieden, Anne ganz direkt nach ihrer religiösen Orientierung zu fragen. Ich glaube, sie vermied das auch lange, aber sie wollte dann doch, gegen Ende der Therapie, das Geheimnis ihres inneren Kraftspenders lüften: Kein geringerer als Gott sei dies für sie, der dafür sorge, dass sie sich in einem großen erhabenen Muster eingewoben und aufgehoben wisse.  Egal, wo und wie Anne ihr Leben mittlerweile führen mag, ich habe keinen Zweifel, dass sie es ruhig, ohne Grimm und mit Zuversicht gestaltet. Diese Eltern hatten ihr eine Kostbarkeit mit auf dem Lebensweg gegeben: den Glauben an einen unerschütterlichen gütigen Gott. So war es rückblickend nur folgerichtig, dass wir ihren Glauben erst gegen Ende der Behandlung zum Thema machten, quasi unter der Türe, wenn du ihn notfalls in die Hand nehmen und rasch raustragen kannst wie eine schlafende Katze. Ich bin froh, dass wir Annes Glauben nicht schmälern, als rosarote Brille entlarven oder anderweitig relativieren mussten. Etwas so Wertvolles sollte täglich poliert werden und nicht der Psychologisierung geopfert.











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