Ohne diese weißen Rollen könnte man vermutlich leben, aber schlechter. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, wenn sie Papiertücher für irgendetwas benötigte, kein ganzes Blatt von der perforierten Rolle abzureißen, sondern ein halbes,
oder manchmal sogar ein Drittel Blatt, wozu sie mit den Fingern das Blatt an geeigneter Stelle einriss, um es besser abtrennen zu können - der Rest blieb an der Rolle, für´s nächste Mal. Obwohl sie keine Schwäbin war, diente dieses Ritual eindeutig dem Ziel, Ressourcen zu sparen. Meinen Lebensgefährten versetzt diese Einsparroutine immer mal wieder in Krisenstimmung; nicht dass er mit meiner Mutter in einem Haushalt gelebt hätte – aber als ihre Tochter habe ich mir ausgerechnet diese Angewohnheit abgeschaut und führte sie weiter, was dazu beitrug, dass in unserer Küche ständig angefangene, geteilte, nochmal geteilte oder eher als zerrissen zu bezeichnende Papierrollenfetzen herumlungern. Man kann die Dinger für fast alles brauchen. Verschütteter Kaffee, Überreste des Ultraschall-Gels vom letzten Arztbesuch, sanftes Nachtrocknen gespülter Weingläser, und wenn gerade kein Papiertaschentuch zur Hand ist, taugen sie auch zum Naseputzen. Man kann mit ihnen Wachsreste aus Tischdecken heraus bügeln, Spiegel putzen und auf den Küchenboden gefallenen Kartoffelbrei wegnehmen.
oder manchmal sogar ein Drittel Blatt, wozu sie mit den Fingern das Blatt an geeigneter Stelle einriss, um es besser abtrennen zu können - der Rest blieb an der Rolle, für´s nächste Mal. Obwohl sie keine Schwäbin war, diente dieses Ritual eindeutig dem Ziel, Ressourcen zu sparen. Meinen Lebensgefährten versetzt diese Einsparroutine immer mal wieder in Krisenstimmung; nicht dass er mit meiner Mutter in einem Haushalt gelebt hätte – aber als ihre Tochter habe ich mir ausgerechnet diese Angewohnheit abgeschaut und führte sie weiter, was dazu beitrug, dass in unserer Küche ständig angefangene, geteilte, nochmal geteilte oder eher als zerrissen zu bezeichnende Papierrollenfetzen herumlungern. Man kann die Dinger für fast alles brauchen. Verschütteter Kaffee, Überreste des Ultraschall-Gels vom letzten Arztbesuch, sanftes Nachtrocknen gespülter Weingläser, und wenn gerade kein Papiertaschentuch zur Hand ist, taugen sie auch zum Naseputzen. Man kann mit ihnen Wachsreste aus Tischdecken heraus bügeln, Spiegel putzen und auf den Küchenboden gefallenen Kartoffelbrei wegnehmen.
Nicht dass mein Blogthema jetzt eine prosaische Erweiterung in Richtung Haushaltsführung einschlüge – aber beim Thema Traumatherapie muss ich immer an den Segen universell nützlicher Methodik, sozusagen an die Kleenexeigenschaften, denken. Die Patienten nennen die traumatherapeutischen Konfrontationsmethoden des eye moving desensitization and reprocessing (EMDR) gerne „Wegwinken“ oder „Fortwedeln“ – damit spielen sie auf die Armbewegungen des Traumatherapeuten an, der seine Hand in einer bestimmten Frequenz vor ihren Augen hin- und herbewegt und mit seiner kräftemäßig aus der Schulter geholten Muskelkraft so einsetzt, dass sich via Augenbewegung des Patienten neuro-physiologische Schaltkreise lockern, die das Trauma hinterlassen hat. Deren schlimmste Folgen sind die sogenannten flash-backs, die sich ungefragt aufdrängenden, manchmal visuellen, manchmal auch taktilen oder olfaktorischen Erinnerungsfragmente des Traumas, die den Betroffenen starke Schlafstörungen, Angstzustände und zuweilen sogar dauerhafte Veränderungen ihrer gesamten Persönlichkeit zufügen, welche ihn bis hin zum Selbstmord treiben können. In den Jahrzehnten nach dem Vietnamkrieg hatte man realisiert, dass mehr Soldaten durch Suizid als durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen waren, und nahm sich der Frage, wie Traumata wirken, stärker an. Als ich meine Ausbildung begann, galt es noch, die Patienten zum genauen Berichten zu drängen. „Sie müssen sich erinnern!“, hieß es, flankiert mit dem subtil nach Voyeurismus müffelnden Imperativ: „Erzählen Sie alles ganz genau!“ Wie vielen Seelen wir Therapeuten damals, ganz vom Credo des Durcharbeitens, Durchhaltens und Durchstehens okkupiert, geschadet haben, mag ich mir lieber gar nicht erst vorstellen. Die Erfinderin des EMDR entdeckte jenes zufällig; sie hatte in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts gerade eine niederschmetternde Diagnose erhalten und war in ihrer Verzweiflung in einen Wald gegangen, um dort spazieren zu gehen und nachzudenken; die Sonne hatte zwischen den einzelnen hohen Baumstämmen so hindurch geschienen, dass bei einem bestimmten Gehrhythmus die Augen, angeregt durch das Lichtspiel der sich abwechselnden Baumstämme und Sonnenstrahlen, sakkadenartig hin- und herwanderten. Da merkte sie, dass ihr das gut tat; sie wurde innerlich ruhiger. Dies war die Geburtsstunde einer sehr erfolgreichen und sich von den USA aus immer mehr verbreitenden Therapiemethode. Eine Weile konnte man in einem der dritten Fernsehprogramme sogar bei echten Fällen zuschauen, wie der Therapeut ratz-fatz die Folgen eines bestimmten Traumas, sei es eines schweren Autounfalls, eines bewaffneten Banküberfalls oder eines Wohnungsbrands, über diese Methode beseitigte.
Als das Ganze in seinen Anfängen steckte, wurde bei entsprechenden Vorträgen noch das Handwerkliche in den Vordergrund gestellt; das Hin- und Her-Bewegen der mit dem Zeige- und Mittelfinger nach oben gerichteten, aufrecht ausgestreckten Hand durch den Therapeuten erinnerte an die Segnungen auf dem Petersplatz im Rom und erforderte muskuläres Durchhaltevermögen sowie, besonders in den Sommermonaten, ein zuverlässiges Deodorant, zumal aufgrund der Hartnäckigkeit des zu beeinflussenden Gegenstandes oftmals Doppelstunden als Therapieeinheit angesetzt werden mussten. Die Verhaltenstherapeuten waren als Erste begeistert, wohingegen die psychoanalytisch Geschulten in zwei Lager zerfielen; Neuauflagen der psychoanalytischen Traumatheorien wurden erbittert rezitiert und kritische Fragen gestellt bei Tagungsdiskussionen, wo denn, bitteschön, die Bedeutung der psychotherapeutischen Beziehung bei diesen Gymnastikübungen noch zu finden sei. Ein Vortragender und Meister des neuen Faches meinte einmal spöttisch, im Grunde könne diese Technik auch durch den Hausmeister des Klinikgebäudes erlernt werden. Gekränktes Gemurmel der Zuhörerschaft. Aber in einem beeindruckenden Sauseschritt nahmen sich schließlich fast alle methodischen Professionen der Erlernung der neuen Methode an – was auch damit zu tun hatte, dass endlich die Diagnostik sich verfeinerte und Traumaopfer besser und rascher erkannt wurden.
Es bildeten sich nach wenigen Jahren riesige Warteschlangen vor den Praxen von traumatherapeutisch geschulten Behandlern, und Adressenlisten von Traumatherapeuten wurden gehandelt wie Lagetipps für Steinpilzsammler. Längst galt es nicht nur, Menschen mit schlimmen Erfahrungen wie Vergewaltigung, Beinahe-Erstickungstod oder Foltererfahrungen zu helfen; das Wegwinken wurde zunehmend propagiert auch für andere Beschwerden, vor allem aber für Ängste jedweder Couleur; von der Fahrstuhlangst bis zur Kopfschmerzattacke reichte das Indikationsgebiet.
Eigentlich ist ja ein Trauma dadurch definiert, dass es die seelischen Bewältigungsmöglichkeiten des betroffenen Individuums übersteigt. Insofern hätte von Anfang an Vorsicht herrschen müssen bei dessen allzu leichtfertiger Diagnose; darüberhinaus gab es handfeste, für eine Psycho-Diagnose außergewöhnlich signifikante und trennscharfe Symptomenkomplexe, anhand derer eine Traumafolgestörung festgestellt werden konnte. Doch es half nichts: Nach wenigen Jahren gerieten die Interpretation einer Belastung als Trauma, die Diagnose einer Traumafolgestörung und die klinische Anwendung traumatherapeutischer Methoden in den Sog des alten Sprichworts: Neue Besen kehren gut. Doch es tauchten auch bald erste Probleme des EMDR auf; so konnte man beobachten, dass Therapeuten, die sich traumatherapeutisch fortgebildet hatten, ab sofort wegen Überlastung jahrelang ausgebucht oder bereits selbst als Fortbilder tätig waren und dadurch den therapieplatzsuchenden Patienten gar nicht mehr direkt zur Verfügung standen. Es drängte sich der Verdacht auf, dass es für den Anwender selbst doch nicht so einfach war, diese technisch orientierte, beziehungsdynamisch scheinbar easy-going anwendbare und in den Studien aus den Anfangsjahren als hocheffektiv sich bewährende Methode in größerem Ausmaß zu nutzen; mit der Verbreiterung der Indikationsbereiche verbreiterte sich auch das Spektrum der unterschiedlichen, teilweise schwerst gestörten Patienten; erste Versuche, mehr Ausgewogenheit bei der gemeinsamen therapeutischen Arbeit zu erzielen, mündeten in „Verträgen“, in denen die Patienten unterschreiben mussten, das sie gewillt seien, aktiv mitzuarbeiten (sic!) und alles zu unterlassen, was sie weiter in ihren seelischen Zustand hinein katapultieren würde. Es wurden zusätzliche Übungssequenzen entwickelt, die sich zum eigentlichen EMDR, welches ja von der Präsenz des Therapeuten abhing und Prozessieren genannt wurde, hinzugesellten und die vom Patienten selbst durchführbar waren; diese wurden zwar regelhaft vom Therapeuten verordnet, aber durchaus nicht regelhaft vom Patienten zuhause trainiert.
Auch die Atmosphäre in Supervisionsgruppen veränderte sich schleichend; bei Berichten über sich schwierig gestaltende Behandlungen tauchten, anfangs zögernd, später fast regelmäßig, schier religiös anmutende Fragen der Kollegen auf: „Hast du das schon mal prozessiert?“ oder „Ich nehm´ doch an, du hast EMDR schon versucht?“ Fragen, bei denen man sich höchst unwohl und am Rande ethischer Integrität fühlte, wenn man dies verneinen musste. Doch bald tauchten derlei Fragen nicht erst - zu Recht - bei der Besprechung von ins Stocken geratenen Behandlungen auf, sondern gingen bereits während des ersten Anamnese-Berichts, diesen unterbrechend, über die Symptome eines Patienten schon nach wenigen Minuten wie Wurfgeschosse nieder: „Also, ehrlich gesagt – ich würd´ da mit EMDR rangehen“. Das Anhören von Beschwerden und Symptomen ist nun einmal, vor allem, wenn man an dem Tag schon sechs Patienten selber behandelt hat, mühsam, um nicht zu sagen, traumatisierend, so dass es mir gelegentlich schien, als diene die reflexartige Frage nach dem Einsatz des EMDR eher der Traumavermeidung beim Therapeuten als der Behandlung einer noch gar nicht seriös diagnostizierten Störung des Patienten. Der Satz „Das war doch traumatisch!“ machte bei Berichten über Lebensgeschichten von Patienten die empathische Runde und legte Versuche, darüber hinaus noch irgendwas verstehen oder gar psychodynamisch betrachten zu wollen, völlig lahm. Das kannst du dir etwa so vorstellen, wie wenn du bei jedem Telefonklingeln schon mal präventiv mit einer Feuerwehreinheit ausrückst, für den Fall, dass es sich bei dem Anruf um eine Brandmeldung handeln könnte, und gar nicht mehr klärst, wer eigentlich der Anrufer ist.
Neulich saß ich in einer Gruppe und wähnte mich an der befremdlichen Klimax aller Traumatheorien. Es ging um eine Patientin, die acht Jahre zuvor an einem Brustkrebs erkrankt war, der erfolgreich operativ und chemotherapeutisch behandelt war; warum sie nach acht Jahren zum Therapeuten kam, wurde nicht weiter erörtert, obwohl sie ja möglicherweise noch andere Eigenschaften und Lebenserfahrungen außer der Brustkrebsdiagnose besaß; stattdessen löste der Fall bei den anwesenden vier weiteren Frauen eine Fixierung auf traumatherapeutische Geschütze aus: immer, wenn diese Patientin zur Tumorkontrolle gehe, kämen ihr die flash-backs. Da müsse man etwas tun! Nach einer Weile des einmütig geteilten Macherwahns (EMDR gleich oder später? Imaginative Übungen? Eventuell weitere Traumen in der früheren Lebensgeschichte? Erstmal stationär in eine traumaspezialisierte Klinik schicken?) meldete sich das böse Kind in mir und ich begann, bezüglich der Qualität dieser flash-backs nachzufragen; ich erhielt zur Antwort, alle halbe Jahre sitze die Frau im Wartezimmer der gynäkologischen Abteilung und ihr kämen dort die alten Bilder hoch, die Frauen mit Haarausfall, die Weißkittel mit gestressten Gesichtern, bleiche Patientinnen, die mit Infusionsständern durch die Flure gingen, und der Krankenhausgeruch. Ich warf ein, das seien keine flash-backs und ich könne kein Trauma erkennen. Diese Frau würde halt durch die halbjährlichen Kontrollen an all das erinnert, was sie – gottlob erfolgreich – zwischendurch ganz gut zu verdrängen wisse. Dass sie jedes Mal Angst habe, glaubte ich gerne, und wenn diese Angst übermäßig erscheine – was ich allerdings eher bei den anwesenden, etwa gleichaltrigen Therapeutinnen vermuten würde als bei der Patientin – dann könne man dies ja durch eine empathische Gesprächsführung weiter fokussieren und analysieren.
Nachdem die Gruppe geendet hatte, hörte ich die Teilnehmerinnen noch im Weggehen auf dem Gang reden: das sei ein ganz neuer Ansatz, diese Patientin nicht als Traumaopfer zu sehen, zumindest interessant. Ich meine, gar nicht interessant. Kranksein ist schlimm. Und das Schlimmste daran ist, dass man es nicht wegwinken kann.
P.S.
Liebe Stefanie, danke für die Assoziation mit der Winkekatze; zumal dieses Tierchen ja Glück bringen soll.
P.S.S.
Und wer sich weiter Gedanken macht über die Frage human factor vs technics in der Psychotherapie, findet hier ein nützliches Kurzvideo zum Thema:
Liebe Stefanie, danke für die Assoziation mit der Winkekatze; zumal dieses Tierchen ja Glück bringen soll.
P.S.S.
Und wer sich weiter Gedanken macht über die Frage human factor vs technics in der Psychotherapie, findet hier ein nützliches Kurzvideo zum Thema:
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