Geduldige Projektionsfläche |
Natürlich fällt jedem etwas anderes ein, wenn er an hohe Mauern denkt, die etwas Geheimnisvolles vor dem Auge des zu klein geratenen Betrachters schützen sollen. In Südfrankreich bin ich mal um eine kleine Landzunge an der Côte d´Azur herumgelaufen,
es gab einen angenehmen Kiesweg, gerade so breit, dass sich zwei schwarze XXL Geländewagen oder zwei dunkelgrüne Jaguars aneinander vorbeiquetschen können; links war das Mittelmeer und rechts ging man an Grundstücken vorbei, deren Größe man erahnen konnte, da sich die Begrenzungen, manchmal aus vier Meter hohen gut gepflegten Hecken bestehend, manchmal aus behauenen Steinen, zu hohen Mauern zusammengefügt, abwechselten und nach einigen Minuten des Gehens merktest du am Wechsel der Begrenzungsart, dass jetzt ein Grundstück aufhört und ein neues anfängt. Man hörte Touristen ehrfürchtig munkeln, welcher Filmstar aus welchem Land hier residierte; an den in der strahlenden Sonne glänzenden polierten Messingschildchen standen Initialen („I. L.“ oder „U.U.W.“ oder, bei Super-VIP´s, „U“ oder auch gar nichts). Natürlich hätte ich was dafür gegeben, da mal kurz hochsprungmäßig über die Mauer zu lugen und einen Blick auf eine wunderschöne Veranda, eine sonnengebräunte Frau oder wenigstens auf einen auf ausländische Psychotherapeutinnen abgerichteten Kampfhund mit einem samtenen bordeauxroten Halsband zu ergattern. Hinter den Mauern war das andere Leben, es war genauso wirklich wie das Leben davor und trotzdem wie auf einem anderen Stern.
Als ich in der Psychiatrie arbeitete, gab es die Gewohnheit, diejenigen Bereiche, in denen die Straftäter und die geschlossen unterzubringenden, selbstmordgefährdeten Patienten lebten (Schnittmenge beider Gruppen gibt es auch, obgleich meistens eher verschieden), als „hinter den Mauern“ zu titulieren; wenn man sich unter Kollegen traf, dann wurde gefragt, arbeitest du hinter den Mauern oder vorne? Genauso wie in Südfrankreich kennzeichnete auch hier eine, wenngleich nicht ganz so gepflegte, sehr lange Mauer die Grenze zum anderen Leben, wo die Seelenuhren anders tickten als vor den Mauern und die Pflegekräfte häufiger männlich und schwergewichtig waren.
Es gibt noch eine andere Mauer, aber die kann man nicht sehen. Das ist die unsichtbare Mauer in unseren Köpfen, die wir sofort ruck-zuck hochziehen wie ein schwarzbezahlter Bautrupp, sobald wir persönlich was mit der Psychiatrie zu tun bekommen. Früher hatten ja die Psychiater noch eine sehr breite doppelte Fachausbildung, in Neurologie und in Psychiatrie, und konnten sich elegant „Nervenärzte“ nennen. Aber heutzutage hat man die beiden Fachbereiche in der ärztlichen Weiterbildung getrennt. Zum Unmut der Patienten, die einfach weiterhin sagen, sie hätten einen Termin beim Neurologen, wenn sie zum Psychiater gehen. Oder sagen wir besser, gehen müssen. Der Psychiater ist sowas wie das black sheep der Ärztefamilie, selber in den Augen von Nichtpsychiatern, und das sind ja fast alle Menschen, ein Depp von Natur aus, durch den dauernden Kontakt mit psychisch Kranken sekundär zusätzlich zum Deppen gemacht und außerdem auch noch der Depp, wenn´s an die Honorierung seiner Leistungen geht, denn da darbt er als Schlusslicht der Gehaltsliste aller Fachgruppen dahin, nur noch unterboten von halbtags beschäftigten Reinigungskräften, Psychotherapeuten und mobilen Friseuren auf Demenzstationen. Ein Hausarzt, der nicht möchte, dass ihm seine Patienten weglaufen, sollte möglichst selten eine Überweisung zum Psychiater ausstellen, sondern notfalls sich den ganzen Seelenmüll selber sichten und dann - keine Angst vor Roulette - einen medikamentösen Behandlungsversuch einleiten, denn wer den Psychiater einbezieht, wird anschließend vom Patienten meistens zur Strafe in die Hölle geschickt. Es gibt allerdings Ausnahmen: wenn es ganz arg brennt, die Angehörigen kurz vorm Durchdrehen sind, und der Patient den Selbstmord ins Auge oder ins appellative Gehege seiner Sprechwerkzeuge gefasst hat, dann soll der Psychiater her, und zwar schnell! Ähnlich ergeht es den black sheep, wenn sie eine psychotherapeutische Behandlung, trotz entsprechender Fachkenntnisse, zwar nicht selber durchführen dürfen („Dort sitzen Verrückte im Wartezimmer !“ – „Der hat nicht so schöne Therapiesessel wie Sie“! – „Da sieht mich ja vielleicht jemand reingehen, das will ich nicht!“), aber, möglichst ohne Medikamente, begleitend flankieren und im entscheidenden Moment (nämlich Selbstmordgefährdung oder psychotisches Durchdrehen) mannhaft eingreifen und die Verantwortung übernehmen sollen. Sozusagen wie stand-by-Polizisten, bloß nicht verbeamtet und nur selten zu Pferde. Psychopharmaka werden ja im übrigen nicht einem Patienten gegeben, verordnet oder angeboten, sondern in ihn reingepumpt.
Doch die Psychiatrie hat ja nicht nur den Makel, eine ambulante Behandlungsmethode zu sein, nein, sie toppt das Ganze auch noch durch ihre epidemischen stationären Angebote. Dort kümmern sich Krankenschwestern und – pfleger sowie die bereits beschriebenen Schafe geduldig um oft schwer kranke, schwierig zu erreichende (schließlich möchte jeder dort abgeholt werden, wo er gerade steht!) oder widerwillige Patienten. Gelegentlich hält die Psychiatrie darüberhinaus auch noch her als Außenfeind. Hat jemand wochen-, monate- oder gar jahrelange Konflikte in der Familie, so dass man sich zuhause schier die Köpfe einschlägt, enden die für gewöhnlich, wenn der Patient in die Psychiatrie gebracht oder gesteckt wird. Dann tauchen die gleichen Angehörigen wieder dort auf, lammfromm, leicht vorwurfsvoll, mit der Frage, ob man mit dem Arzt sprechen könne und wann der Angehörige wieder entlassen werde. Einträchtig wählt man während der Besuchszeiten in der Cafeteria aus dem reichhaltigen Kuchenangebot, hält anlässlich von Krankenbesuchen Händchen im Aufenthaltsraum, und wenn es dem Psychiatrieopfer wieder besser geht, gibt es eine Wochenendbeurlaubung nach hause zur Belastungsprobe. Verläuft die gut, wird das Opfer irgendwann entlassen, und im Rückblick stellen alle gemeinsam fest, dass dieser Psychiatrieaufenthalt völlig unnötig gewesen sei, dass das Opfer so arg mit Tabletten vollgepumpt worden war, dass es gar nicht mehr hatte laufen können, und dass die Ärzte dort sowieso nix gemacht haben. Friedlich und voller Harmonie lebt man dann weiter in einer familiären Bombenstimmung. Bis zum nächsten Mal.
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