Fragte man in unserer Stadt einen psychotherapeutischen Kollegen, stieß man stets auf dieselbe Antwort: nein, bei „Rausgewählt“ würde man natürlich nicht mitmachen,
das lasse die berufsrechtlich gebotene Abstinenz nicht zu, auch nicht der eigene übervolle Terminkalender und erst recht nicht das doch sehr zweifelhafte Format des Ganzen. Man wolle das letzte Drittel oder gar Viertel seiner Therapeutenkarriere nicht unwürdig wie ein ehemaliger Star im Dschungelcamp beenden, sagten insbesondere die Älteren unter den Angefragten. Dann hatte meine Assistentin Amanda Schmitt-Steckelhuber, eine abgebrochene blondierte Jurastudentin, die zündende Idee und castete in einem weit entfernten Drei-Sterne-Hotel Therapeuten aus weit auseinanderliegenden Orten, die sich nicht einmal vom Namen her kannten. Es menschelte daraufhin beinahe schlagartig: die angebotene Kohle für den Fall des erfolgreichen, vom Stammplatz in einer bis sogar zwei Staffeln belohnten Castings siegte, und dies in Verbindung mit dem uns allen seit der Entdeckung des world wide web innewohnenden Wunsch, einmal im Netz präsent zu sein und klicks abzustauben. So hatten wir sie denn, Amanda und ich, schneller zusammen, als wir anfänglich dachten, und stellen sie dir hier vor, die glorreichen Sieben aus Staffel I, zum Warmwerden:
Jürgen
Jürgen (Spitzname der Graf) ist ein schlanker großgewachsener 45 jähriger Analytiker, der in jeder Folge ein blütenweißes Hemd trägt, gewählt redet, nie die anderen unterbricht und ziemlich aristokratisch rüberkommt. Dem männlichen Zuschauer macht er ein bisschen Konkurrenzangst (falls dieser Zuschauer selbst akademisch gebildet ist und/oder gut aussieht), aber aufgrund seiner zurückhaltenden Art wird er letztlich lange in Ruhe gelassen und kommt während der ersten Staffel bis unter die letzten drei Therapeuten. Die weiblichen Zuschauer gründen bereits in Staffel I nach wenigen Monaten einen Fanclub und Jürgen erhält zahlreiche google-Suchanfragen mit den Begriffen „Jürgen Schlappe/Analytiker“ oder „Jürgen Schlappe/Freundin/verheiratet“ und „ Schlappe/schwul/wer-weiß-was?“). Er nimmt auch an der zweiten Jahresstaffel noch weiter teil (mehr als zwei Staffeln hintereinander sind gegen die RAUSGEWÄHLT! - Regeln), und da er sich während dieser Folgestaffel als homosexuell outet, benennt sich sein bis dahin schon recht etablierter Fanclub um in eine Selbsthilfegruppe für enttäuschte Verehrerinnen homosexueller Fernseh-therapeuten und organisiert eigene jährliche Tagungen auf Madeira mit therapeutischem Wandern gegen den Frust enttäuschter Liebe.
Eliza
Eliza ist eine deutschgriechische Körpertherapeutin, sie lässt ihre Herkunft väterlicherseits immer mal im Gespräch mit einfließen, indem sie der Gruppe mitteilt, welche antike Sage ihr zum jeweils verhandelten Patienten einfällt. Sie arbeitet nicht nur klassisch körpertherapeutisch, sondern macht auch Skulpturarbeit, das heißt sie will das Thema immer auch während der Sendung optisch demonstrieren, was ihr die anderen Teilnehmer im Stuhlkreis (bis auf Jürgen, der es genießt, nicht so viel reden und streiten zu müssen) übelnehmen, da Eliza mit ihrem andauernden Skulpturenstellen ziemlich viel Zeit verbraucht und die anderen überdies dazu benutzt, das Ganze mit aufzubauen und darzustellen (Gefahr von Rückenproblemen, außerdem Angst, sich für Eliza zum Affen zu machen, sowie begründete Bedenken, im Stehen das eigene unvorteilhafte Körpergewicht weniger kaschieren zu können als auf dem Stuhl sitzend – vor allem für Mechthild ein Problem, im Laufe der Staffel zunehmend auch für Andy, der in Konfrontation mit Jürgen seine Eitelkeit entdeckt und seinen kleinen Bauch immer öfters einzieht, wobei er so naiv ist, zu denken, das Publikum kriege das nicht mit). Eliza wirkt manchmal nervig, weil sie ständig die gleichen Erklärungsansätze bemüht und der Zuschauer sich zwar zunächst wohlfühlt, da er ihr ABC nach kurzer Zeit beherrscht, aber nach wenigen Folgen rollt man nur noch mit den Augen. Eliza hat letztere stets stark geschminkt und trägt einen balkenartigen Lidstrich (Maria Callas – Typ).
Maren
Maren ist die jüngste in der Runde. Sie gehört zur taffen „Generation why“, hat mit siebzehneinhalb Jahren ein Einserabi hingelegt und mit dreiundzwanzigeinhalb trotz Auslandsuni in den USA schon ihren deutschen Psychologie-Masterabschluss gemacht. Sie kennt sich top aus in Coaching, Verhaltenstherapie, Trauma- und Hypnotherapie sowie systemischer Therapie und das alles kann man auf ihrer Homepage nachlesen, die sie während der Laufzeit der ersten Staffel mehr und mehr aufrüstet. Der Zuschauer fragt sich, ob sie angesichts ihrer Qualifikationen bisher überhaupt gelebt hat. Lieblingswort: Zielführend. Größter Pluspunkt: Maren ist zwar sehr jung, aber sie wiegt den Zuschauer selbst bei aussichtslos erscheinenden brutalsten Fällen in Sicherheit. Lieblingssatz: „Da würde ich mit Hoffnung und Hypno rangehen“. Marens endgültigen Durchbruch in der Zuschauergunst verdankt sie aber ausgerechnet einer Schwäche: unter Schluchzen berichtet sie anlässlich der Fallbesprechung einer essgestörten Patientin, dass sie früher selbst mehrere Jahre unter einer Sonderform der Bulimie mit Donutfressanfällen, der sogenannten Dolimie, gelitten hat, was sie nach vorübergehenden Quotentiefs aufgrund unerwarteter Desillusionierung dann doch wieder eine Weile weiter nach oben bringt. Mechthild kann Maren nicht leiden. Da Maren das egal ist, macht das Mechthild noch rasender als ohnehin schon die ganze Frau.
Heidrun-Sieglinde
Ist eine Analytikerin der alten Schule, hat total viel gelesen und total viel Erfahrung und darunter wabert zuverlässig ein mütterliches Herz. Äußerlich wirkt Heidrun-Sieglinde ein bisschen vernachlässigt, also nicht nur in die Jahre gekommen, sondern auch farb- und prachtlos, weswegen sich zwischen meiner Assistentin Amanda und mir unser bisher einziger Streit während der Castingphase entzündet hatte, da Amanda sie für´s TV – Format als zu langweilig befand, ich dagegen das als authentisch rüberkommend bewertete. Heidrun-Sieglinde ist die Älteste im Stuhlkreis, man merkt ihr zwar an, dass sie über Mechthild, Andy und Jasper innerlich den graubelockten Kopf schüttelt (Maren und Eliza nimmt sie wohl gar nicht so ernst), aber sie würde jeden aus dem Stuhlkreis letztendlich in ihre hageren Arme nehmen und an den weder mit Push-up noch Silikon aufgemotzten Busen drücken, wenn er oder sie das gerne wollte und entsprechend dezent signalisieren würde. Heidrun-Sieglinde bleibt als einzige Frau noch im letzten Quartal der ersten Staffel im Rennen, und das, obwohl sich die Zuschauer schwer tun und Amanda manchmal sich genötigt sieht, Fachbegriffs-Übersetzungen als Untertitel einzublenden, während Heidrun-Sieglinde längere Textpassagen hat. Jürgen macht den letztendlich möglicherweise staffelentscheidenden Fehler, zu oft einzusteigen, um mit ihr zu fachsimpeln. Leider vergisst Heidrun-Sieglinde, dass an den Bildschirmen doch (jedenfalls teilweise) Laien sitzen und redet von Übertragung und Gegenübertragung und früher Störung und depressiver Grundstörung. Autorennamen umflattern sie wie Mücken das Licht. Die breite Masse mag sie trotzdem, denn sie ist in der allgemeinen Wahrnehmung sowas wie Mutter pur; in derjenigen Folge, in der Maren sich heulend als ehemals donutfressanfallsüchtig outet, ist Heidrun-Sieglinde die einzige, die spontan aufsteht und Maren die Hand auf die Schulter legt. Mechthild merkt das und macht es zwar nach, guckt aber dabei in die Studiokamera, was das Ganze unglaubwürdiger rüberkommen lässt als Heidrun-Sieglindes Spontangeste.
Mechthild
Alt-Achtundsechzigerin mit wallenden knitterigen Leinengewändern selbst im Winterhalbjahr. Trägt diese Schuhe, die aussehen wie Kleinkindschuhe mit runden Ecken und Gummisohlen. Mechthild ist Familientherapeutin und Psychodramatherapeutin und redet gern in Begriffswelten wie „Lass´ uns schauen, lass´ uns gucken, da bin ich ganz bei dir, was will der Patient wirklich von dir, er will autonom werden, er will die Anpassung aufgeben, ohne fallengelassen zu werden“. Ohne es zu merken, doziert Mechthild ständig, aber nicht nur die anderen im Stuhlkreis, sondern auch der Zuschauer merkt es, und damit kommt sie nicht gut an, weil sie vom Text her, den sie von sich gibt, dauernd vom Gegenteil spricht („nix überstülpen, einfach da sein und warten, wenn du da direktiv wirst, geht´s schief“). Mechthild muss schon nach dem zweiten Quartal gehen, was sie damit kommentiert, dass sie glaubt, die Männer in der Runde hätten sie systematisch gemobbt, weil sie sie beneiden (worum?). Andy hat Mechthild den Spitznamen Alice gegeben, hier verzichte ich auf Erläuterungen und sage nur: in der Zeitschrift Emma hätte Mechthild bestimmt mit Leichtigkeit mal eine Homestory platzieren können, aber Andy hat mit Frauenzeitschriften nichts zu tun und, wie er beteuert, auch nicht mit Gebärneid.
Andy (Sieger der Staffel I)
Andy ist der nette zupackende Kerl von nebenan. Er trägt meistens karierte Hemden oder T-Shirts, er macht Verhaltenstherapie pur wie die Natur sie uns gibt, verzichtet auf methodischen oder rhetorischen Schnickschnack und erklärt dem Zuschauer, dass das meiste eh bloß Angst vor der Angst ist. Wenn die psychoanalytische Fraktion redet, ist Andy respektvoll still und hört zu, aber wenn du genau hinschaust bei den von Amanda immer häufiger eingefädelten Großaufnahmen seines Gesichts, merkst du, dass er in sich reinlächelt. Andy ist der Pragmatiker in der Gruppe, in den Phasen, in denen es heiß hergeht, greift er auch schon mal ein und sagt, Leute, cool bleiben, das wird zu katastrophisierend! Andy beginnt während der Endphase der ersten Staffel mit Jürgen zu rivalisieren, es ist nicht ganz klar, ob er das aus Männergründen tut oder weil er ahnt, dass Jürgen sein gefährlichster Rivale wird in Sachen Staffelsieg. Andy hat, während andere sich um Methoden und Formulierungen streiten, nämlich als Erster begriffen, dass mehr Frauen als Männer RAUSGEWÄHLT! schauen und demzufolge angesichts der Heterosexualitätsquoten im Lande mit einem männlichen Sieger zu rechnen sein wird.
Jasper
ist zweifellos der Bemerkenswerteste von allen. Und möglicherweise auch der Menschlichste. Amanda hatte ihn ursprünglich schon als Kandidaten nehmen wollen, bevor sie ihn im überfüllten, zum Wartesaal umfunktionierten Konferenzraum des Casting-Hotels aufrief. Jasper ist früher Ergotherapeut gewesen, dann hat er das Abendabitur und den Heilpraktiker für Psychotherapie draufgesetzt und er arbeitet seither vorwiegend als Kinesiotherapeut. Jasper muss sich dauernd schraubenartig bewegen, das heißt seine Vertikalachse ist im ADHS-Modus befindlich, was ihm zusammen mit seinen zögerlichen verbalen Einlassungen, seiner Unsicherheit und seinem grenzwertig niedrigen Gewicht bei hochaufgeschossenen Körpermaßen (Sitzriese) etwas alienmäßiges verleiht. Jasper fehlt am häufigsten bei einzelnen Staffelfolgen, erst heißt es dann immer, kurz nach der Anfangsmelodie verkündet durch Assistentin Amanda, Jasper sei krank, aber im Netz verbreiten sich innerhalb weniger Wochen Vermutungen, es seien Cannabis und Autismusattacken im Spiel. Eigentlich ist Jasper ein netter Kerl, er käme nie auf die Idee, andere im Stuhlkreis anzugreifen (ich sage nur: Mechthild) oder gar zu persönlich zu kränken, er ist auch eine Weile noch vor Maren und Heidrun-Sieglinde der Sympathieträger im ersten Quartal, zumal er so etwas verkörpert wie den latenten Patienten unter den Therapeuten. Aber letztlich stürzt er ziemlich schnell ab mit seinen Quoten und wirkt darüber sogar erleichtert. Zur letzten Episode vor seinem quotenbedingten Rauswurf erscheint Jasper mit Jackett und einem hellblauen Statement-T-Shirt mit dem Schriftzug: Hirnhälften vereinigt euch!
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