... was bisher geschah
Der große Tag war mittlerweile gekommen und es entwickelte sich binnen weniger Minuten eine
Selbsthilfegruppenatmosphäre vom Feinsten im foyer-artigen Vorraum des Zulassungsausschusses. Horrorbotschaften waren unter den Wartenden ausgetauscht, Uhrzeiten abgeglichen worden. Ab und zu hatte die Tür vom
Sitzungssaal geklappt.
Noch immer: Tag 345:
Die zweiflügelige Sitzungsaal-Türe wird für alle zum strukturgebenden Taktgeber.
Sowohl für die individuelle Einschätzung der bereits erheblichen Zeitverzögerung als auch für die Feinjustierung der Einzelpsychen. Da kommen dann erschöpft, aber meistens glücklich wirkende
Abgeber-Übernehmer-Pärchen herausgewankt. Manchmal auch Trios. Selten Quartette.
Manchmal müssen sie nur draußen warten, weil der Ausschuss berät, und
dann später wieder reingehen. Sie stehen dann da wie der berühmte falsche
Fuffziger. Erste Schauerbotschaft: mit den Verlegungen sind sie streng. Meine
beiden Vorvertragspartner sind auch schon da. Sie duzen sich. Aha. Eine
Kollegin hat auch ihren Mann als Fahrer dabei. Beruhigend. Meinen Partner hatte ich ja bisher in einem Stehcafè in der Nähe des Ärztehauses versteckt, doch
nun tritt auch er aus der Anonymität hervor und außerdem aus dem Fahrstuhl.
Man macht sich bekannt. Für kurze Zeit sind wir alle Leidensgenossen: alte,
junge, aus der Stadt, aus dem dörflichen Umland, Verhaltenstherapeuten aus dem
Feindesland, Psychoanalytikerinnen, Kinder- und Jugendlichentherapeuten
und völlig unbekannte Gesichter aus dem Umland. Die Tür klappt wieder.
Blick auf die Uhr. Meine beiden Vertragspartner und ein dritter, der sich als
der kampferprobte "Einen schönen Tag noch" – Psychologe B. entpuppt,
verschwinden hinter der Tür des Sitzungssaals. Jetzt wird es ja ziemlich heiß.
Für die, und wie mir dann dämmert, auch für mich. Wer von meinen beiden
fällt eventuell raus, wird gleich glückselig nachhause fahren statt zur für
meinen Sitz anberaumten Sitzung? Und wer bleibt mir eventuell erhalten? Als
das Trio nach langer Zeit wieder rauskommt, wirken alle drei derartig
erschöpft, dass es per Blickdiagnose absolut nicht möglich ist zu erkennen, wer
gerade den Zuschlag bekam. Der jugendlich attraktive Herr F. hat starre
glasige Augen, die chancenarme, aber total ehrliche Psychologin K. macht
dauernd beschwichtigendes Handyoga und hat sich für diesen Zweck total
perfekt die Fingernägel in Vitalrot lackiert und der kampferprobte B. wirkt
völlig zerknirscht, als hätte er ein Foul begangen und der Schiri hätte es
gemerkt. Außerdem ist er kleiner, als ich das am Telefon mir vorgestellt hatte.
Und netter. Die wartende Truppe erhält ungefragt Aufklärung: F. hätte
eigentlich aufgrund seiner Qualifikationen den Sitz bekommen müssen. Mitten
in der Sitzung habe ihm der Vorsitzende vorgeworfen, es fehlten leider seine
Nachweise zur Anzahl der Jahre klinischer Vorerfahrung. Die seien nicht da. Die lägen nicht vor.
Aufgrund dessen hatte nun B. den Zuschlag erhalten, obwohl unverdient, da
kürzer approbiert als F. Ganz selbsthilfegruppenmäßig fragen wir F., ja haben
sie sich denn nicht gewehrt? Doch, beteuert F., der immer noch einen starren
Blick hat, er habe gesagt, "das geht doch nicht!", weil er genau wisse, dass dem
Ausschuss sogar die Originale vorlägen. Eine Ausschussdame habe daraufhin
sogar den Sitzungssaal verlassen, um nach den Unterlagen zu fahnden, aber
nichts beibringen können. Während er berichtet und erste
Beileidsbekundungen einsammelt, auch Kollege B.´s Beteuerung, "das wollte
ich nicht!", muss meine andere Vertragspartnerin in den Saal. Begleitet von
einem Praxisabgeber. Sonst niemand, ein Duett. Mir schwant, dass sie den Sitz
erhält, offenbar sind ihre Konkurrenten abgesprungen oder schon am
Vormittag mit einem Praxissitz versorgt worden. Oder aufgrund vorzeitigen
Kneipenbesuchs nicht erschienen. Das hatten wir uns schachmäßig anders
berechnet. Mir schwant außerdem, dass Kollege F.´s Pech mein Glück ist. Ich
habe nun also nur noch einen potentiellen, wenn auch glasig bilckenden
Übernehmer. Dem Ausschuss liegen aber zu wenig Unterlagen von ihm vor.
Sagen wir, ein halbes Glück. Ich beschließe, auf die von den weißbeblusten jungen Empfangsdamen angebotene Tasse Kaffee
lieber zu verzichten. Bin hellwach. Kollegin K. kommt aus dem Saal,
überglücklich. Statt sofort in die nächste Kneipe zu gehen – ich erfahre, dass
ihr Ehemann wohl ebenfalls mitgekommen ist -, setzt sie sich zu uns
Wartenden, sie sagt, sie müsse "erst mal runter kommen". Sie habe sich genau
ausgerechnet, dass ich nicht leer ausgehen würde. Begründet das,
schachmäßig, Du weißt schon. Kollege F. neben mir wirkt langsam wieder
normoton. Offenbar will die total ehrliche Kollegin K. uns beiden weiter mit
ihrer Anwesenheit ihre Verbundenheit ausdrücken. Ich finde sie zu gut für
diese Welt. Andererseits… befürchte ich, dass ich das auch war. Ich habe
beiden mehrfach versprochen, dass ich keinen dritten Bewerber annehmen
würde. Vielleicht ein Fehler? Aber ich hatte mir Restwürde erhalten wollen in
diesem nunmehr elfeinhalb Monate andauernden undurchsichtigen
Geschachere. Da sind ja hektische Torraumszenen von Erstligaclubs in
Endspielen noch leichter zu durchschauen.
In der Selbsthilferunde, die sich mittlerweile um einige ergänzt hat, wogegen
andere bereits abgezogen sind, macht sich Ungeduld breit. Es wird offenbar
ewig da drinnen im Saal verhandelt. Ohne dass ein Antragsteller drin wäre.
Reden die etwa über den Kollegen F., mittlerweile wieder einen Hauch von
Kampfgeist ausstrahlend, und mich? Mein Lebensgefährte macht mir
Hoffnung: "Ich garantiere, die kungeln das da drinnen schon aus, bevor sie
Euch rein rufen." Für meinen Geschmack zu optimistisch, diese Lesart. Aber
Spaß macht´s schon. Ich adoptiere seine Vermutung kurz und erzähle dem
neben mir sitzenden, langsam wieder basale Attraktivität ausstrahlenden
Kollegen F., wie viele Leitzordner mein Praxisarchiv umfasse und ob er schon
einen geeigneten Aktenschrank dafür hätte. Die Thematik ist für ihn
unangenehm. Entweder hat er noch gar keinen Schrank, oder gerade andere
Sorgen, weil er nicht über ungelegte Zulassungsausschusseier reden will.
Könnte auch beides der Fall sein. Wir verkünden der wartenden
Kollegenschaft, die langsam Unruhezeichen absondert, nun doch beidseitig in
ein gewisses hypomanisches Hoch gerutscht: "Bei uns wird es ganz schnell
gehen!"
Wir werden kurz danach endlich aufgerufen vom Vorsitzenden des Ausschusses. "Herr Doktor F.
bitte und Frau Novotny". Das finde ich irgendwie gemein: mein letzter
Kontakt mit dem Kassenarztdasein endet in einer Missachtung meines
Doktortitels. Ich rette mich in Ironie und nuschele leise, naja, einen Doktor
habe ich auch, aber was soll´s. Das hat der Vorsitzende möglicherweise
gehört. Bin ich von allen guten Geistern verlassen?
Wir nehmen Platz, Psychologe F. links, ich rechts. Wir sitzen da knappe sechs
Minuten in Trance (mein Partner hatte draußen die Zeit gestoppt). Der
Vorsitzende gibt den generösen Onkel aus Amerika (Schnapsgenuss in der
Mittagspause?), sagt, es sei ein großes Entgegenkommen des
Zulassungsausschusses, dass Kollege F. nunmehr meinen Sitz erhalte. Aaaaber
im Gegenzug müsse er etwas tun: F. sehe ich nur im linken Augenwinkel. Seine
Ohren beginnen zu wackeln. Ich selbst versuche, mich an die Handyoga-Übungen von Kollegin K. zu erinnern. Dann kommt´s: er müsse vor den
Augen des Ausschusses nun eine Verlegung meiner Praxis auf seinen Sitz
beantragen und dafür das alte Formular, aus der unglücklichen Sitzung eine
Stunde zuvor, benutzen und umändern. Mit zitternden Händen schreibt er, der
Vorsitzende sagt zweimal in seine Richtung, bitte paragraphieren, ich
überlege krampfhaft, was das ist, aber F. bleibt am Formularball. Nur einmal
muss ich in der nächsten Minute noch was sagen – nicht etwa weil ich gefragt
wurde; aber es geht doch tatsächlich darum, wann der Übergabetermin sein
soll. Als ich die Worte März oder April höre, kriege ich eine akute
Drachenfehlinformationsallergie, setze mich in Positur und sehe dem Drachen
direkt in die Augen (ich erkenne die Dame sofort), ohne sie aber anzusprechen.
Flüchte mich in die Passivform, danke dir, du deutsche Grammatik! "Ich wurde
schriftlich unterrichtet, dass die Befürwortung der Nachbesetzung meines
Sitzes in sieben Tagen erlischt." Ich würde daher doch plädieren, dass man gleich den
morgigen Tag einsetze. Ich meine, in der mickrigen Gestik des Vorsitzenden
eine gewisse Anerkennung für mein astrein vorgebrachtes und dennoch
zeitsparendes Paragraphenvotum herauszuhören.
Der Vorsitzende sagt abschließend, man bedanke sich auf Krankenkassenseite
für meine Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung. Etwas schmucklos,
aber es berührt mich dann doch.
Als wir rauskommen, nehme ich kaum noch was wahr. Aber es fällt mir dann
immerhin ein, den noch weiter wartenden Anwesenden des Buchstabens O bis
Z Glück für ihre Verhandlungen zu wünschen. Wo ist eigentlich Sonnenbrille
gewesen, frage ich mich, schon im Aufzug stehend. Ich habe sie gar nicht gesehen und
lt. Alphabet wäre sie die nächste. Sie ist doch nicht etwa vom Bäcker…weiter in
die nächste Kneipe gewandert und danach versackt?
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