f Psychogeplauder: Halber Praxiswitz Staffel 3 Episode 1: Der große Tag/Auftakt

Sonntag, 7. November 2021

Halber Praxiswitz Staffel 3 Episode 1: Der große Tag/Auftakt

 


...was bisher geschah

Nachdem sich nach mehreren Verschiebungen tatsächlich ein Termin 7 Tage vor Ablauf der Frist für die Sitzabgabe aus diversen Papierbergen herausdestilliert hatte, habe ich zwei Vorverträge, einen mit dem attraktiven Psychologen F. und einen mit der chancenlosen Schwester-im-Geiste-Psychologin K. Ich bekam schriftlich die Uhrzeit meines Erscheinens mitgeteilt und vieles andere zu den Formalien, was stark nach Jetzt-wird-es-Ernst roch. Der Tag naht.


Tag 345: 

Heute ist Ausschusssitzung. Extra früh losgefahren. Ich solle gegen 14 Uhr erscheinen. Meine beiden Vorvertragspartner haben ja schon andere Praxissitzverhandlungen dort, die zu früheren Uhrzeiten terminiert sind. Vielleicht komme ich in dem riesigen Gebäudekomplex an und die beiden sitzen schon angeheitert in der Kneipe um die Ecke des Ausschusses, weil sie längst abgeräumt haben.

Ich würde dann ohne einen Praxisübernehmer vor den Ausschuss treten müssen - möglicherweise sogar dort, in gedemütigter Position, dem Drachen begegnen. Ich überlege, was ich in dieser Situation alternativ machen würde. Innere Entscheidung: Ich würde auch in die Kneipe gehen. Aber nicht bezahlen. 

Zur Sicherheit lasse ich mich von meinem Freund fahren. Ich war lange ambivalent deswegen: Einerseits ist die Fahrt auf der vielbefahrenen Autobahn kein Traum und gehört nicht zu meinen herausragenden Fähigkeiten; außerdem habe ich ja eine beginnende posttraumatische Belastungsstörung wegen des Telefonats mit dem Drachen im Dezember und leide unter anfallsweisen Schwindelattacken. Andererseits finde ich es ziemlich spießig und peinlich, wenn andere wartende postklimakterische Kolleginnen im Ärztehaus mitbekommen sollten, dass ich mich von meinem Partner fahren lasse. Wie eine dämliche lebensunfähige Möchtegern-Selbstständige.

Als ich auf dem großen Parkplatz vorm Gebäude der kassenärztlichen Vereinigung aus dem Wagen steige, winkt mir eine ebenfalls gerade ausgestiegene ziemlich arg blondierte Frau mit großer dunkler Sonnenbrille eigentümlich zu. So wie ein Star, der unerkannt bleiben möchte, aber trotzdem signalisiert, dass er ein Star sei. Ich erkenne in ihr eine mir altbekannte Kollegin. Ihr Mann steigt auf der Fahrerseite aus; aha, er hat sie gefahren. Das bringt mir schon mal Entlastung für´s Stichwort möchtegernselbstständig. Außerdem schält sich aus dem Fond des Wagens mühsam noch ein junger Mann, der mir arg nach Praxiskäufer aussieht. Den haben sie wohl aus Sicherheitsgründen gleich hinten rein gepackt, den potentiellen Fluchtgefahren durch kluges Vorsorgen entgegentretend. Die Kollegin verkündet mir, sie wolle erst mal zum Bäcker gehen. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie hat einen sitzen. Aber ich habe sie auch schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht hat sie ja in den letzten Jahren immer einen sitzen gehabt. 

Im Erdgeschoß muss man sich anmelden und die schriftliche Ladung zur Sitzung sowie seinen Personalausweis vorzeigen, „aus Sicherheitsgründen“. Ich kann es nachvollziehen. Hier geht es um nichts anderes als um Terrorabwehr. Wenn ich bedenke, wie viele Bomben allein ich schon hier reingeworfen habe. Bisher nur im Geiste. Aber wer weiß? Im dritten Stock öffnet sich die Fahrstuhltüre und es begegnet mir im weiträumigen Warteraum dicke Luft; man merkt gleich, hier wird gezittert und geschluchzt. Vielleicht so ein bisschen wie in der berühmten laugh-and-cry Ecke der Eiskunstläufer, in die sie sich bei wichtigen Turnieren nach ihrer Darbietung zurückziehen, unter kleinen Mutmachgesten, um auf das Juryurteil zu warten. 

Als erstes begebe ich mich Richtung Empfangstischchen, wo zwei nette junge Damen in weißen Blusen sitzen, vor Infomaterialbergen für Praxiserwerber (früher, 1990, als ich im selben Warteraum meine Zulassung beantragte, nannte man diese Infomaterialien in Anlehnung an Babyeltern liebevoll „Erstausstattung“). Außerdem gibt es hier einen Wasserspender. Als erstes werde ich gefragt, ob ich Praxisübernehmerin sei. Ich bekomme kurz Panik und sage, vielleicht etwas zu laut, nein, Abgeberin. Nicht dass da in letzter Minute noch was schief läuft. Mein Alptraum fällt mir ein: die erzwungene Niederlassung in dem furchtbaren patientenlosen Kaff. Nachdem mein Anliegen geklärt ist, nehme ich Platz bei den anderen Wartenden. Etwa die Hälfte kenne ich, wenngleich teilweise nur noch schemenhaft, aus früheren Zeiten und Jahrzehnten. Es sind andere Praxisabgeber. Es entwickelt sich binnen weniger Minuten eine Selbsthilfegruppenatmosphäre vom Feinsten. Horrorbotschaften werden ausgetauscht, Uhrzeiten abgeglichen. Ab und zu klappt die zweiflügelige wuchtige Schallschutztür des imposanten Sitzungssaals. Offenbar wird drinnen viel diskutiert. Die Zeitpläne für die einzelnen Wartenden sind in Verzug. Naja, das ist nichts Neues.

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