f Psychogeplauder: Wertewelten

Dienstag, 3. März 2015

Wertewelten



Ausschnitt  aus  einer  deutschen
PC Tastatur  mit  subversiver  Botschaft



Eine sehr häufige, um nicht zu sagen beinahe immer geklagte Beschwerde von Psycho-therapiepatienten ist der sogenannte zu geringe Selbstwert.
In der Formulierung, spätestens aber in dem dahinterliegenden Gedanken liegt häufig schon das Problem verborgen: einen „zu geringen Selbstwert“ kann man meiner Meinung nach gar nicht haben, denn alle Menschen haben den gleichen Selbstwert, so dass man von groß, kümmerlich, übergroß, aufgebläht oder mittelmäßig beim Selbstwert nun wirklich nicht reden kann. Also alles Lügner und Übertreiber, die sich bei den Psychoklempnern tummeln? Mitnichten. Was gemeint ist, ist das Selbstwertgefühl. Und da sind wir bei einem ganz anderen Thema angelangt. Der gefühlte Selbstwert ist tatsächlich großen Schwankungen ausgesetzt, sowohl im Längsschnitt, also dem Lauf eines persönlichen Lebens, aber auch wenn du einen Querschnitt durch alle Selbstwertfühler Belgiens am zweiten März betrachten würdest, kämest du auf eine Spannbreite, die diejenige von Vitali Klitschko zuverlässig übertreffen würde. Ich möchte ja das Ganze nicht verkomplizieren, aber die Varianz des Selbstwertgefühls ist zusätzlich auch noch durch merkwürdige Selbst-einschätzungen verzerrt. Es gibt Leute, die kommen zu spät zum Erstgespräch, entschuldigen sich nicht, sagen vorwurfsvoll, dass das Treppenhaus zuwenig erleuchtet sei und der Termin ihnen zu früh am Tag, setzen sich dann hin, um sofort mit sonorer Stimme loszulegen mit ihren Problemen, deren Verursachung sie ihrer Umwelt zuweisen, wobei sie nicht mit verächtlichen Kommentaren sparen. Und dennoch kann es gut möglich sein, dass sie das quälende Gefühl haben, sie hätten zu wenig Selbstwert.

Tja, was tun bei so vielen Baustellen auf deutschen Persönlichkeitsautobahnen? Jeden-falls habe ich durch meine Tätigkeit ziemlich schnell gelernt, wie man nicht zu mehr Selbstwertgefühl gelangen wird: indem man koste es, was es wolle, einen Partner, einen Porsche Carrera oder eine fortgeschrittene Schwangerschaft (Bauch!) vorweisen kann, indem man Slingpumps besitzt, die exakt zur Tasche passen, oder wenn man in der Schule immer nur Einsen abliefert und den Eltern stets zur Freude gereicht. Mir berichtete einmal eine Frau, die die 50 überschritten hatte sowie ein Studium, eine frühe Scheidung und die Erziehung zweier wohlgeratener Töchter hinter sich, dass sie jahrelang alle sieben Tage ihre Selbstwertpflege betrieben habe; dies sei der Höhepunkt ihrer Woche gewesen, worauf sie schon ab Freitag nachmittags hingearbeitet hatte; dazu sei sie jeden Samstag auf den Markt gegangen – auf denjenigen Markt desjenigen Stadtteils, dessen Besuch selbstwertmäßig zwingend  sei; sie habe dabei sorgfältig die Regeln der schlauen Uhrzeitwahl beachtet (kommst du zu früh, gibt es zu wenig Zuschauer; kommst du, wenn alle kommen, ist der Marktplatz so bevölkert, dass du in der ganzen Szenerie unterzugehen drohst; kommst du zu spät, sind die anderen Marktbesucher, jedenfalls die, auf die´s ankommt, teilweise schon in der gerade angesagten Champagnerbar verschwunden und du musst mitsamt deinem schlechten Selbstwertgefühl unverrichteter Dinge Dich selbst und Deine teuer erstandenden frischen Zucchiniblüten wieder einpacken). Neben der Uhrzeitwahl habe es noch drei weitere wichtige musts gegeben: erstens perfekte Klamotten, und zwar auch dann, wenn sie neu sind, in einer subtilen Weise verändert, so dass man nicht merkt, dass sie gerade im Rahmen einer shop-till-you-drop-Aktion erworben worden waren; also bei Blusen bügelte sie in den Ärmeln eine Kante rein, und bei den Schuhen durfte sie auf keinen Fall vergessen, die Preisschildchen auf den Sohlen zu entfernen; man müsse eine Balance finden zwischen "wow, sieht die gut aus" und "na, da hat sich wohl jemand aufgepimpt". Zweitens habe sie immer darauf geachtet, sehr wählerisch vor den Marktständen zu stehen, lange zu überlegen, manchmal den Kopf kritisch schiefzulegen und im Gegenzug nie nach dem Preis zu fragen, da das uncool rüberkomme. Bei der dritten Bedingung zitterte ihre Stimme, und sie berichtete mir weinend, dass sie es seit Wochen nicht mehr schaffe, zum Markt zu gehen; sie sei sogar schon mal losgelaufen und nach wenigen hundert Metern wieder zurückgekehrt. Sie habe es nicht hinbekommen, weil sie derzeit keinen Freund habe, und wenn sie keinen Mann an ihrer Seite vorweisen könne, fühle sie sich auf diesem Markt wie ein Mensch zweiter Klasse. Ich war ihr dankbar für diese Mitteilung, die sie mir vermutlich nie preisgegeben hätte, wenn die Superselbst-wertsamstage weiter funktioniert hätten. Erst durch den Webfehler, die Unterbrechung, das Ausbleiben ihres wöchentlichen highlights war es uns möglich geworden, darüber zu reden.

Eine andere Möglichkeit sind psychologische Selbsthilfebücher. Sie haben Titel, in denen das Wort „ich“ fast immer vorkommt, zum Beispiel „Heute leb´ ich nur für mich“ oder „Ich liebe mich selbst und das ist gut so“ oder ähnliches. Auf dem Cover sind dann so Motive zu sehen wie eine Tasse dampfenden Kaffees auf einem Bistrotisch oder eine blonde schlanke Frau geht mit einem glockenförmigen schwingenden Rock eine baumumsäumte Straße entlang. Da diese Bücher bisher noch niemandem geholfen haben (ein Schicksal, das sie sich bisher und vermutlich leider auch in Zukunft mit einschlägigen posts aus Psychoblogs teilen), werden immer weitere wohlwollende Werke geschrieben und angeboten. 

Eine sehr originelle Entdeckung machte immerhin einmal ein junger Mann, der sehr darunter litt, dass er seine Freundin wie eines jener brünstigen Tiermännchen umwarb und sie ihn dennoch „mit Füssen trat“, wie er meinte. Er arbeitete in einem Software-unternehmen und war zu haben für klare Ansagen. Ich sagte ihm, ich verstünde einfach nicht, warum er seinen Wert quasi täglich neu justiere, je nachdem ob seine Freundin nett zu ihm war, sich zickig gab, ihm zum Geburtstag eine schöne Sonnenbrille schenkte, sich heimlich mit einem anderen traf oder ihm beim Sonntagsfrühstück vorwarf, dass er zuwenig selbstbewusst sei. Sein Wert stehe doch fest! Ich merkte, dass dies ein völlig neuer, auch irgendwie absurder Gedanke für ihn war. Doch er ließ ihn nicht mehr los. Nach einigen Wochen erzählte er mir feierlich, er habe eine Entdeckung gemacht: es gebe ein einziges vollständiges deutsches Hauptwort, das Buchstabe für Buchstabe aneinandergereiht komplett auf der PC – Tastatur stehe : WERT. Und daran angehängt das Wörtchen ZU. Jedesmal, wenn er sein laptop aufklappe, müsse er jetzt daran denken, dass sein Wert fest stehe. Und dass er es wert sei, das zu glauben.

Jedesmal, wenn ich mein laptop aufklappe, muss ich seither daran denken, dass er jedesmal daran denkt, wenn er sein laptop aufklappt: dass auch mein Wert feststeht und dass ich es wert bin, das zu glauben. Und möglicherweise geht das in Zukunft auch dir so, jedesmal wenn du dein laptop aufklappst: dass dein Wert feststeht und dass du es wert bist, daran zu glauben. Denn Personen mit Selbstwert-gefühlsproblemen sind weit verbreitet. Unerkannt und mitten unter uns.



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