f Psychogeplauder: Heul´doch!

Dienstag, 14. April 2015

Heul´doch!






Diagnostik in der Psychotherapie – früher war das ja noch eine recht übersichtliche Sache. Oral, anal, ödipal. Das wissen heutzutage auch die interessierten Laien, dass es da so solche Kategorien gibt, die FREUD (kann jetzt auch nichts dafür, dass der Name schon wieder fällt) eingeführt hat
und spätestens in den frühen Achtzigern kam dann noch zur Abrundung langsam, aber dafür gewaltig die von den meisten Therapeuten ähnlich wie eine Steuerprüfung gefürchtete Borderline-Diagnose dazu. Es war aber nicht lange Ruhe in dieser Einteilungsidylle. Eine Weile lang wurde zusätzlich überlegt:  früh gestört, mittelreif oder reif ? Das klang schon sehr nach Bananen,  und so wundert es nicht, dass, wie im modernen videounterstützten Bewertungssystem beim Eiskunstlauf, auch hier immer mehr diversifiziert und spezifiziert wurde. Heute muss man also die Patienten in verschiedenen Konflikt- und Struktur-„Achsen“ vermessen und die Diagnoseschemata werden genauer. Das ist öde, außerdem musst du so viel lesen und den Patienten dauernd beobachten. Eines Tages werde ich mit meiner im folgenden beschriebenen Heul-doch-Diagnostik, der dieser stolze Post gewidmet ist, noch groß rauskommen, denn Effizienzmängel kann man ihr wirklich nicht vorwerfen, und Zeit kostet sie auch nicht. Es sei denn, du hast Nichtheuler unter deinen Patienten, aber selbst dann gibt es ja noch die erkältungsbedingt triefenden Nasen, die dann doch noch die dem ganzen Ansatz zugrundeliegende Taschentuchnummer nach sich ziehen.

Darauf gebracht, ein ganz alltägliches Utensil anstatt Tabellen und Achsen zur Diagnostik zu nutzen, hat mich einer meiner ersten psychotherapeutischen Lehrer. Bei ihm habe ich viele Samstage und Sonntage zugebracht, um in einer Ausbildungsgruppe Gesprächsführung zu erlernen, und das erste, was mir beim Betreten seiner schönen Praxis- und Unterrichts-räumlichkeiten aufgefallen war, war eine Packung Papiertaschentücher. Dieser psychotherapeutische emergency-kit lag auf derjenigen Seite eines kleines Tisches in seinem Sprechzimmer, wo offenbar seine Patienten saßen. Jahre später, als ich meine eigene Praxis eröffnete, repräsentierten die Tempo-taschentücher das erste unumstössliche Fixum meiner Einrichtung. Mein Lehrer, den ich übrigens sehr mochte, ist schon früh gestorben, und immer, wenn ich meinen kleinen Tisch im Sprechzimmer abstaube und zu diesem Zweck die Taschentücherpackung bewege, oder wenn ich sie ersetze, weil sie leergeweint ist, muss ich an ihn in freundlicher Hochachtung denken.

Patienten weinen ziemlich oft. Manche leise, andere laut schluchzend. Manche weinen, wie sie mir erzählen, erst nach der Sitzung, wenn sie wieder allein sind, und drehen dabei im Auto die Musik laut auf, und andere beginnen die Stunde damit. Ich habe auch schon mal mitgeheult und ich hoffe, es wurde nicht als allzu störend vermerkt. Ein diagnostisch interessanter Moment ist der, wenn sie den Impuls verspüren, die Tränen zu trocknen. Am schönsten wäre es natürlich, wenn in dieser Sekunde George Clooney oder wahlweise Jennifer Lopez mit einem weißen spitzenumsäumten Baumwolltüchlein herangerauscht käme, um dem hiermit rasch Getrösteten danach ein gemeinsames Dinner in einem stilvollen Abendlokal vorzuschlagen. Beginn einer großen love story. Aber bisher war das nie der Fall, so dass die Situation anders gelöst werden musste. Und da setze ich an: ich unterscheide sechs Typen, aha, also schon mal mehr als FREUD, aber immer noch übersichtlich genug, um nicht beim Diagnostizieren Kopfweh zu kriegen.

I  Das Baby
Babies zeichnen sich dadurch aus, dass sie es unglaublich lange aushalten, tränenüberströmt dazusitzen. Es gibt erst sehr spät unkoordiniert wirkende, wenig wirkungsvolle Handbewe-gungen, um sich immer wieder das Gesicht mehr schlecht als recht zu trocknen, und es gibt auch lange keine sich andeutende Suche nach Taschentüchern. Sie lassen laufen, bis du als Gegenüber das ganze Elend nicht mehr mit ansehen kannst und sie ermunterst, doch mal eins der vor ihnen liegenden Taschentücher zu nehmen. Deine Intervention erleichtert und enttäuscht sie zugleich. Sie möchten eigentlich trockengelegt werden und du sagst bloß, "Baby, mach´ hinne, hier vorne liegen die Windeln".
II  Der Autonomiefreak 
Die Freaks beginnen im Gegensatz zu den Babies sehr früh mit Aktionen, um ihre Tränen zu trocknen, und sie leiten ihre Suche grundsätzlich bei sich selbst ein. Dazu wird in (bei Frauen) zumeist großen Taschen („ich habe immer alles, was ich brauche, bei mir“) gekramt oder (bei Männern) in insgesamt – jedenfalls bei Jeans - vier Hosentaschen (ein Handy, ein Schlüssel, mehr braucht ein Cowboy nicht) abwechselnd herumgeknetet. Besonders krasse Exemplare kramen selbst dann noch, wenn sie nichts finden und ich ihnen das vor ihnen liegende Päckchen verbal ins verweinte Bewusstsein rufe, denn sie wollen es einfach selber finden, das erlösende Taschentuch. Letztere Unabhängigkeitsübertreiber gehören zum Untertyp II b.
III  Der Hinterfotzige
Es gibt leider Leute, die die ganze Zeit wissen und sehen, dass meine Taschentücher bereit liegen, aber sie wollen den Moment auskosten, in dem ich ihnen die Taschentücher endlich direkt anbiete. Sie warten solange, bis ich´s sage, und dann gucken sie ganz überrascht, dass da Taschentücher sind und dass sie die nehmen dürfen. Sie haben dich getestet, ob du herzlos bist, und demonstrieren sich als Opfer deiner nachlässigen Langsamkeit (denn du hättest sie doch längst schon ihnen anbieten können!).
IV  Der Nehmer
Nehmer heulen und nehmen meine Taschentücher. Manchmal schneuzen sie einmal rein, verstauen das Tuch in ihrer Tasche, und nehmen gleich das nächste. Dieses, sagen wir mal, großzügige Konsumverhalten kann zu Nachschubproblemen führen. Je nachdem, wie voll die Packung war, ist gelegentlich sogar eine Unterbrechung des Weinens drin zur Meldung: „Ich brauche Ihre ganzen Taschentücher auf!!“ oder auch: „Jetzt hab´ ich Ihnen alle weggenommen !“. Ein kleiner Triumph ist nicht in allen Fällen zu überhören.
V  Der Nestbeschmutzer
Sie gehen über das Nehmen hinaus und hinterlassen dir das ganze weissverschleimte Kunstwerk. Manchmal im Sessel, hinten in der Ritze zwischen Armlehne und Rückenteil, was du erst siehst, wenn sie am Ende aufstehen, manchmal sogar auf dem kleinen Tisch drapiert. Da stecken meistens üble Mutterprobleme dahinter, nach dem Motto: soll sie doch selber sehen, wie sie meinen Dreck wieder wegmacht, die Alte. Natürlich passiert ihnen das unbewusst, was hast du denn gedacht!
VI  Der Liegenlasser
Meistens in sozialen Berufen tätig. Die lassen dir ihre eigene angebrochene Packung einfach da, und du weißt nie, war das Absicht oder haben sie sie vergessen? Eine Weile war ich versucht, eine Schublade für vergessene Packungen zu reservieren. Irgendwie ist das danach aber eine heikle Entscheidung. Gibst du ihnen die Packung in der nächsten Sitzung zurück, dann solltest du sie beschriften, um beim Besitzer nicht durcheinander zu kommen, und irgendwie schrabbst du spätestens dann doch nahe an buchhalterischem Kleinkrämertum entlang; oder legst du sie später hin für die Allgemeinheit? Irgendwie ungerecht. Das erlebten diese Gutmenschen sowieso schon oft, dass die anderen absahnen und sie selbst leer ausgehen, und es wäre eine unnütze Wiederholungserfahrung statt emotionaler Korrektur. Ich werde in Zukunft den Gebern am Ende jedes Kalenderjahres eine dieser hübsch verzierten Kleenexboxen schenken, für die Zeit der Tränen nach der Therapie (soll´s geben), damit sie sich auch mal was schenken lassen können. Die können sie zur Not ja jemandem weiterschenken.



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