f Psychogeplauder: Blutopfer (Religion II)

Donnerstag, 2. April 2015

Blutopfer (Religion II)


Der heilige Pancrazius, schon in seiner Jugend sehr gläubig und später geköpft



Sie wollte nicht mehr jede Woche mit ihrem Mann schlafen,  sie wollte nicht mehr dauernd sparen,
um den Dachausbau zu finanzieren, sie wollte nicht mehr sich selbst an die zweite und die beiden langsam flügge werdenden Töchter an die erste Stelle setzen. Außerdem wollte sie nicht mehr diese öden Familienfeiern ertragen, die gehässigen Spitzen ihrer Geschwister hinnehmen, die es materiell zu mehr und menschlich zu weniger gebracht hatten; sie wollte sich nicht mehr von ihrer alternden Mutter schikanieren lassen, die ihre regelmäßigen treuen Besuche unter Einsatz einer drakonischen Schuldgefühlsinduktions-maschinerie einforderte, aber das Elternhaus schon zu Lebzeiten dem Bruder überschrieben hatte; außerdem hatte sie keine Lust mehr auf ihre Nachbarinnen, die sich über den Zaun hinweg darüber unterhielten, dass sie mal wieder ihren Haaransatz nachfärben sollte und sie sich für eine ziemlich schlecht bezahlte Arbeit hergebe. 

Na und, denkst du jetzt. Alles im Lot. 

Da liegst du falsch. 

Es dauerte viele Monate, bis sie und ich diese Wünsche ausgegraben, wie in praller Wüstensonne schwitzende Archäologen entstaubt, andächtig-kritisch betrachtet und schließlich gewürdigt hatten. Denn es waren in ihren Augen nichts als sündige Begehrlichkeiten, für die sie eine Strafe zu erwarten hatte. Daher hatte sie sie vorübergehend einfach vergessen. 


Mit schweren Zwangsgedanken, die sich so gesteigert hatten, dass sie ihren kompletten Tagesablauf beherrschten, war sie zu mir gekommen und scheute nicht das ganze teure Benzin, das sie dafür verfuhr, so als sei dies nur die gerechte Strafe dafür, dass sie sich egoistischerweise in eine Psychotherapiepraxis gewagt hatte, damit es ihr besser gehen sollte. Sie hatte unter der furchtbaren Idee zu leiden, mit dem Auto über herumliegende Flaschen gefahren, dadurch Scherben verursacht und fremden Menschen in der Folge Schnittwunden zugefügt zu haben. Besonders schlimm war es im Sommer vor unserem Kennenlernen geworden, da an ihrem Wohnort ihrer Meinung nach viele Kinder barfuß auf dem Gehsteig liefen und in Scherben treten könnten. Sie transportierte für ein geringes Honorar behinderte Menschen morgens und mittags in einem Kleinbus, um zum Dachausbau beizutragen. Während ihrer Fahrten war sie wie besessen von dem Gedanken, über Scherben gefahren zu sein oder solche erst durch die Reifen des Wagens verursacht zu haben. Manchmal fuhr sie, nachdem sie ihre Weggefährten sicher zuhause abgegeben hatte, noch einmal an den Ort der phantasierten Tat zurück und kontrollierte zu Fuß, ob etwas scharfes Gefahrbringendes herumlag. Oft kam sie erst spät heim. Nachts träumte sie von blutenden Wunden, von infizierten Kinderfüssen, ja sogar einmal von einer notwendig gewordenen Beinamputation, da sie, Sünderin, die sie war, nicht umsichtig genug gefahren war. Stunde um Stunde warfen wir uns gegenseitig Bibelstellen um die Ohren – sie mit strafendem Gott, ich mit gütigem Gott. Ihre Mutter hatte sie, vereint mit Großmutter, ledig gebliebener im Haus lebender Tante und dem Ortspfarrer, in einem Horrorkabinett der Regeln, Strafen und Drohungen erzogen. Als ihr Vater noch lebte, hatte sie einen Verbündeten, einen feinen Geist, wie sie ihn einmal nannte, mit dem sie einmal als Kindergartenkind auf dem Sofa saß und herumtollte und juchzte, bis die Mutter aus der Küche kam und sagte: so so, so wohl ist´s euch, das wird noch teuer zu bezahlen sein! 



Bei ihrer Behandlung habe ich gelernt, dass manche Therapien Zeit brauchen. Es gibt Denkgerüste von derart brutaler Stabilität, die kannst du nicht einfach mit Freundlichkeit und Anteilnahme wegschwafeln. Auch die Prophylaxe ist wichtig. Sie ging nicht mehr so oft in die Kirche. Einmal in der Woche sonntags, wenn alle gucken, das sollte reichen. Ausnahme Karfreitag, da ging sie zusätzlich. Beuget die Knie. Sicher ist sicher.



















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