Hinterhältige Gesundheitsgefährdung für Beschäftigte im Gesundheitssektor |
Wenn du nicht aufpasst, hast du ganz schnell eine an der Backe. Diese in Insiderkreisen auch als Praxismaskottchen denunzierten leidenden Wesen kommen wie Katzen, auf leisen Pfoten:
weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie dich nicht gleich vergraulen sollten. Daher wirken sie zunächst harmlos, um nicht zu sagen, pflegeleicht und von Grund auf sympathisch. Und sie tragen gerne Turnschuhe, insbesondere in sanften Pastelltönen kreierte Sneaker, wahre Designwunder, die signalisieren: ich bin locker, ich bin einfach nett, und ich mache auch nicht viel Lärm, ehrlich! So fing es auch mit Ella an. Das war natürlich nicht ihr richtiger Name, sondern Elisabetta, aber weil sie so nett war, sagte sie allen, die sie kannte, man solle sie doch einfach Ella nennen. Sie gehörte zur Sorte jener Frauen, die immer fleißig, adrett und hilfsbereit sind. Sie machen keine Fehler, sie leiden allenfalls unter den Fehlern der anderen. Hast du jemals jemanden kennengelernt, der beim Betreten eines Zimmers durch die weit geöffnete Tür tritt, weiß, dass da niemand ist, und dennoch dreimal an den Türrahmen klopft? Dann bist du vielleicht einmal einem Mitglied aus Ellas weitläufiger Verwandtschaft begegnet. Das mit dem Klopfen machte sie 80 Therapiestunden lang. Man weiß, was sich gehört. Alte Schule. Aufgrund einer beträchtlichen Erbschaft hatte Ella im Grunde schon seit langem ausgesorgt, was man auf den ersten Blick aber gar nicht vermutete, da sie sich stetig wie ein emsiger Maulwurf durch die Lehr- und Herrenjahre eines Kindergartens gegraben hatte und diesen mittlerweile schon lange stellvertretend leitete. Da ihr oft schon frühmorgens einsam zumute war, ging sie meistens lange vor offizieller Öffnung in ihr Kinderparadies und kochte Kaffee, sortierte „Materialien“, machte Kopien und freute sich schon mal vor auf kids und Kolleginnen. Bis hierher sagst du dir, ist doch alles super gut, und fragst dich, ob du noch weiter dich damit beschäftigen solltest, aber es war nicht alles gut, denn Ella hatte Beschwerden. Sie befürchtete ständig das Schlimmste. Diese Sorge, bei jedem Kneifen im Magen, Ziehen im Darm, Druck im Kopf und flauen Gefühl vielleicht erste Zeichen eines Tumors bei sich zu spüren, machte sie zu einem Nervenbündel. Ella gehörte zu denjenigen Patienten, die dich aus dem Stehgreif fragen konnten, ob du denkst, sie hätten Darmkrebs oder nicht, selbst wenn du gerade mit ihnen dabei warst, ihre tiefen inneren Selbstunwertgefühle zu beleuchten und nicht ihre gastrointestinalen Schleimhäute. All die vorgebrachten Beschwerden und befürchteten schlimmen Krankheiten sollten offenbar Ellas immer mehr verloren zu gehen drohende Kontur und Identität festigen - wenn auch im Leiden. Zwischendurch ging es Ella während oder sogar dank der Therapie blendend, aber dann kamen Rückfälle, meistens wegen Querelen in ihrer Verwandtschaft, die in ihr das Gefühl, nichts wert zu sein, hervorbrachten, und die epischen Formaten wie „Die Buddenbrocks“ oder „Lindenstrasse“ vom Unterhaltungswert her alle Ehre gemacht hätten. Einmal war es so schlimm geworden, dass Ella begann, mich während der Zeit zwischen den Sitzungen anzurufen. Die Arztbesuche zum Ausschluss von Katastrophen häuften sich. Sie wurde krank geschrieben, da sie fix und fertig war, stöhnte aber gleichzeitig, dass ihr der Kindergarten fehle. Ihr Freund, der aufgrund eigener Bindungsprobleme (oder aus weiser Voraussicht) nie mit ihr zusammen gezogen war, schlug ihr aufopferungsvoll vor, einmal ein paar Tage zu ihm zu kommen, um auszuspannen, aber kaum war sie dort, langweilte sie sich furchtbar und fragte bei mir telefonisch an, ob sie nicht wieder nach hause gehen solle. Unter uns, diese Pendelbeziehung trug zu Ellas Problemen zusätzlich bei, aber es war klar, dass Ella das lange anders sah. Weitere Anrufe dienten der dringlichen Klärung der Frage, ob Spazierengehen gut für sie sei oder wegen der dann auftretenden Nachdenklichkeit schlecht, ob sie notfallmäßig die beruhigende Tablette vom Hausarzt nehmen solle oder ob sie dann zu benebelt wäre. Ob sie vielleicht, zur Sicherheit, noch einmal eine Darmspiegelung machen solle. Ob es etwas brächte, wenn sie Sauna machen würde oder ob das dann den Blutdruck bedenklich steigen lasse. Ellas Nummer auf dem Display meines Telefons war mir vertraut geworden, und wenn die entsprechenden Ziffern aufblinkten, schrillten die psychotherapeutischen Sirenen. Die Nachrichten über ausbleibenden, auffälligen oder schmerzhaften Stuhlgang wurden drängender, der Freund hielt ihr vor, dass er es bald nicht mehr aushalte, woraufhin sie meinte, das sage gerade der Richtige, denn ihr Freund sei in Sachen Gesundheitsvorsorge viel zu nachlässig, und auch ich befand mich schon lange nur noch auf der Einwechselungsbank, da mittlerweile Heilpraktiker, Masseure und befreundete Psychoklempner auf dem Platz waren. Aber alle zogen sich unter merkwürdigen Begründungen irgendwann wieder zurück.
Schließlich kam der erlösende Tag, Ella kündigte an, sie werde nun in ein psychosomatisches Krankenhaus gehen. Ich begann also voller Vorfreude, eine Bescheinigung für die Krankenkasse zu schreiben, und hoffte, Ella würde auch tatsächlich in die vorgeschlagene (aus Gründen des behandlerseitigen Selbstschutzes 350 Kilometer entfernte) Klinik gehen, was nach meiner Erfahrung mit unserem Wildkätzchen noch in den Sternen stand. Postwendend leuchtete mein Display auf, Ella hatte noch einmal eine Frage zur gerätemäßigen Ausstattung der Klinik für den Fall, dass man dort doch zur Sicherheit eine Röntgenaufnahme zum endgültigen Tumorausschluß machen müsse. Da bahnte sich eine unfreiwillige Katharsis unter der Überschrift „Attest“ ihren Weg und ich tippte vor mich hin: die Herausnahme dieser Patientin aus ihrem Alltagsumfeld sei für sie selbst psychologisch geboten und für alle Beteiligten medizinisch dringend erforderlich, um dieses Umfeld zu schonen, da sonst weitere Klinikeinweisungen anderer AOK-Versicherter aus dem Freundes- und Bekanntenkreis der Patientin unvermeid-bar seien. Dies würde jedoch zusätzliche stationäre Behandlungskosten verursachen für Menschen, denen man mit Hilfe Ellas stationärer Behandlung hätte kostengünstiger helfen können. Angesichts der bekannten Knappheit ambulanter Therapieplätze gäbe ich außerdem zu bedenken, dass auch die Behandler der Patientin mittlerweile gesundheitlich angeschlagen und hinsichtlich ihrer Arbeitskraft zumindest als gefährdet einzuschätzen seien. Da die Patientin unter einer hypochondrischen Einstellung leide, gehe es hier beileibe nicht nur um die unterzeichnende Psychotherapeutin, sondern im weiteren auch um den Krankengymnasten, den Hausarzt, den Radiologen und mehrere bislang von Ella zu Rate gezogene Enddarmspezialisten. Die Gemeinschaft der Versicherten benötige diese Behandler zur Aufrechterhaltung der eigenen Restgesundheit und es seien ohne Ellas stationäre Behandlung im Umkreis von circa 50 Kilometern Versorgungsengpässe durch sich häufende vorübergehende Praxisschliessungen aufgrund von Nervenzusammenbrüchen oder spontanen Kurzurlauben zu befürchten. Das sollte genügen. Briefmarke und ab die Post, dachte ich noch voller Stolz über meine überzeugende Argumentationskette, während Ella anrief. Von Zweifeln gequält, ob sie überhaupt in die Klinik gehen oder sich lieber mit ihren kids ablenken solle, wollte sie noch ein letztes Mal erkunden, was ich dazu meine. Es gibt Tage, da ahnst du, warum die Zwangseinweisung erfunden wurde.
Als Ella nach sechs Wochen zurück kam, freute ich mich sogar ein bisschen, sie wieder zu sehen. Die stationäre Behandlung hatte zwar keine wegweisenden neuen Entwicklungen gebracht, aber die Klinik hatte Ella vorübergehend Sicherheit geboten und, vor allem, in ganz anderer Hinsicht sehr geholfen: ihr Freund, ihre Kollegen, ihr Physiotherapeut, ihr Internist und ich hatten sich gut erholt und waren wieder wohlauf.
weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie dich nicht gleich vergraulen sollten. Daher wirken sie zunächst harmlos, um nicht zu sagen, pflegeleicht und von Grund auf sympathisch. Und sie tragen gerne Turnschuhe, insbesondere in sanften Pastelltönen kreierte Sneaker, wahre Designwunder, die signalisieren: ich bin locker, ich bin einfach nett, und ich mache auch nicht viel Lärm, ehrlich! So fing es auch mit Ella an. Das war natürlich nicht ihr richtiger Name, sondern Elisabetta, aber weil sie so nett war, sagte sie allen, die sie kannte, man solle sie doch einfach Ella nennen. Sie gehörte zur Sorte jener Frauen, die immer fleißig, adrett und hilfsbereit sind. Sie machen keine Fehler, sie leiden allenfalls unter den Fehlern der anderen. Hast du jemals jemanden kennengelernt, der beim Betreten eines Zimmers durch die weit geöffnete Tür tritt, weiß, dass da niemand ist, und dennoch dreimal an den Türrahmen klopft? Dann bist du vielleicht einmal einem Mitglied aus Ellas weitläufiger Verwandtschaft begegnet. Das mit dem Klopfen machte sie 80 Therapiestunden lang. Man weiß, was sich gehört. Alte Schule. Aufgrund einer beträchtlichen Erbschaft hatte Ella im Grunde schon seit langem ausgesorgt, was man auf den ersten Blick aber gar nicht vermutete, da sie sich stetig wie ein emsiger Maulwurf durch die Lehr- und Herrenjahre eines Kindergartens gegraben hatte und diesen mittlerweile schon lange stellvertretend leitete. Da ihr oft schon frühmorgens einsam zumute war, ging sie meistens lange vor offizieller Öffnung in ihr Kinderparadies und kochte Kaffee, sortierte „Materialien“, machte Kopien und freute sich schon mal vor auf kids und Kolleginnen. Bis hierher sagst du dir, ist doch alles super gut, und fragst dich, ob du noch weiter dich damit beschäftigen solltest, aber es war nicht alles gut, denn Ella hatte Beschwerden. Sie befürchtete ständig das Schlimmste. Diese Sorge, bei jedem Kneifen im Magen, Ziehen im Darm, Druck im Kopf und flauen Gefühl vielleicht erste Zeichen eines Tumors bei sich zu spüren, machte sie zu einem Nervenbündel. Ella gehörte zu denjenigen Patienten, die dich aus dem Stehgreif fragen konnten, ob du denkst, sie hätten Darmkrebs oder nicht, selbst wenn du gerade mit ihnen dabei warst, ihre tiefen inneren Selbstunwertgefühle zu beleuchten und nicht ihre gastrointestinalen Schleimhäute. All die vorgebrachten Beschwerden und befürchteten schlimmen Krankheiten sollten offenbar Ellas immer mehr verloren zu gehen drohende Kontur und Identität festigen - wenn auch im Leiden. Zwischendurch ging es Ella während oder sogar dank der Therapie blendend, aber dann kamen Rückfälle, meistens wegen Querelen in ihrer Verwandtschaft, die in ihr das Gefühl, nichts wert zu sein, hervorbrachten, und die epischen Formaten wie „Die Buddenbrocks“ oder „Lindenstrasse“ vom Unterhaltungswert her alle Ehre gemacht hätten. Einmal war es so schlimm geworden, dass Ella begann, mich während der Zeit zwischen den Sitzungen anzurufen. Die Arztbesuche zum Ausschluss von Katastrophen häuften sich. Sie wurde krank geschrieben, da sie fix und fertig war, stöhnte aber gleichzeitig, dass ihr der Kindergarten fehle. Ihr Freund, der aufgrund eigener Bindungsprobleme (oder aus weiser Voraussicht) nie mit ihr zusammen gezogen war, schlug ihr aufopferungsvoll vor, einmal ein paar Tage zu ihm zu kommen, um auszuspannen, aber kaum war sie dort, langweilte sie sich furchtbar und fragte bei mir telefonisch an, ob sie nicht wieder nach hause gehen solle. Unter uns, diese Pendelbeziehung trug zu Ellas Problemen zusätzlich bei, aber es war klar, dass Ella das lange anders sah. Weitere Anrufe dienten der dringlichen Klärung der Frage, ob Spazierengehen gut für sie sei oder wegen der dann auftretenden Nachdenklichkeit schlecht, ob sie notfallmäßig die beruhigende Tablette vom Hausarzt nehmen solle oder ob sie dann zu benebelt wäre. Ob sie vielleicht, zur Sicherheit, noch einmal eine Darmspiegelung machen solle. Ob es etwas brächte, wenn sie Sauna machen würde oder ob das dann den Blutdruck bedenklich steigen lasse. Ellas Nummer auf dem Display meines Telefons war mir vertraut geworden, und wenn die entsprechenden Ziffern aufblinkten, schrillten die psychotherapeutischen Sirenen. Die Nachrichten über ausbleibenden, auffälligen oder schmerzhaften Stuhlgang wurden drängender, der Freund hielt ihr vor, dass er es bald nicht mehr aushalte, woraufhin sie meinte, das sage gerade der Richtige, denn ihr Freund sei in Sachen Gesundheitsvorsorge viel zu nachlässig, und auch ich befand mich schon lange nur noch auf der Einwechselungsbank, da mittlerweile Heilpraktiker, Masseure und befreundete Psychoklempner auf dem Platz waren. Aber alle zogen sich unter merkwürdigen Begründungen irgendwann wieder zurück.
Schließlich kam der erlösende Tag, Ella kündigte an, sie werde nun in ein psychosomatisches Krankenhaus gehen. Ich begann also voller Vorfreude, eine Bescheinigung für die Krankenkasse zu schreiben, und hoffte, Ella würde auch tatsächlich in die vorgeschlagene (aus Gründen des behandlerseitigen Selbstschutzes 350 Kilometer entfernte) Klinik gehen, was nach meiner Erfahrung mit unserem Wildkätzchen noch in den Sternen stand. Postwendend leuchtete mein Display auf, Ella hatte noch einmal eine Frage zur gerätemäßigen Ausstattung der Klinik für den Fall, dass man dort doch zur Sicherheit eine Röntgenaufnahme zum endgültigen Tumorausschluß machen müsse. Da bahnte sich eine unfreiwillige Katharsis unter der Überschrift „Attest“ ihren Weg und ich tippte vor mich hin: die Herausnahme dieser Patientin aus ihrem Alltagsumfeld sei für sie selbst psychologisch geboten und für alle Beteiligten medizinisch dringend erforderlich, um dieses Umfeld zu schonen, da sonst weitere Klinikeinweisungen anderer AOK-Versicherter aus dem Freundes- und Bekanntenkreis der Patientin unvermeid-bar seien. Dies würde jedoch zusätzliche stationäre Behandlungskosten verursachen für Menschen, denen man mit Hilfe Ellas stationärer Behandlung hätte kostengünstiger helfen können. Angesichts der bekannten Knappheit ambulanter Therapieplätze gäbe ich außerdem zu bedenken, dass auch die Behandler der Patientin mittlerweile gesundheitlich angeschlagen und hinsichtlich ihrer Arbeitskraft zumindest als gefährdet einzuschätzen seien. Da die Patientin unter einer hypochondrischen Einstellung leide, gehe es hier beileibe nicht nur um die unterzeichnende Psychotherapeutin, sondern im weiteren auch um den Krankengymnasten, den Hausarzt, den Radiologen und mehrere bislang von Ella zu Rate gezogene Enddarmspezialisten. Die Gemeinschaft der Versicherten benötige diese Behandler zur Aufrechterhaltung der eigenen Restgesundheit und es seien ohne Ellas stationäre Behandlung im Umkreis von circa 50 Kilometern Versorgungsengpässe durch sich häufende vorübergehende Praxisschliessungen aufgrund von Nervenzusammenbrüchen oder spontanen Kurzurlauben zu befürchten. Das sollte genügen. Briefmarke und ab die Post, dachte ich noch voller Stolz über meine überzeugende Argumentationskette, während Ella anrief. Von Zweifeln gequält, ob sie überhaupt in die Klinik gehen oder sich lieber mit ihren kids ablenken solle, wollte sie noch ein letztes Mal erkunden, was ich dazu meine. Es gibt Tage, da ahnst du, warum die Zwangseinweisung erfunden wurde.
Als Ella nach sechs Wochen zurück kam, freute ich mich sogar ein bisschen, sie wieder zu sehen. Die stationäre Behandlung hatte zwar keine wegweisenden neuen Entwicklungen gebracht, aber die Klinik hatte Ella vorübergehend Sicherheit geboten und, vor allem, in ganz anderer Hinsicht sehr geholfen: ihr Freund, ihre Kollegen, ihr Physiotherapeut, ihr Internist und ich hatten sich gut erholt und waren wieder wohlauf.
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