f Psychogeplauder: Die Häschenschule (Schmerzensschreie IV)

Montag, 16. Mai 2016

Die Häschenschule (Schmerzensschreie IV)



Danke  an  Rolf  aus  K.,  dass  er  
immer  alles  so  sorgfältig  aufhebt


Dass ich jetzt tatsächlich noch einmal von meiner schmerzgeplagten Patientin W. anfange, obwohl ich seit „tender points – Schmerzensschreie III“ angekündigt hatte, damit aufzuhören,
ist vermutlich ein folgenschwerer blogtechnischer Fehler. „Schmerzensschreie IV“ könnte nun zum ungewollten Rausschmeißer werden für all jene treuen Leser, die die Beiträge „Schmerzensschreie I bis III“ als unvermeidliches Beiwerk des Blogs hingenommen, um nicht zu sagen, stumm ertragen haben. Doch es ist, wieder einmal, Wikiwaki selbst, die mich mit einem erneuten introspektiven Höhenflug überraschte, so dass ich nur mit den Ohren schlackern und die Perlen ihrer Selbsterkenntnis aufschreiben konnte. Neulich hat sie sich doch tatsächlich durchgerungen, mit der Betriebsärztin zu reden. Die kennt sie schon seit über 20 Jahren. Und ihren Chef kenne sie auch schon über 20 Jahre. So dass sie, Wikiwaki, zunächst gedacht hatte, was soll ich da mit der Betriebsärztin reden. Ich hatte ihr aber in der Sitzung zuvor die Arbeitnehmerhölle heiß gemacht in Sachen leidensgerechter Arbeitsplatz und Durchhalten bis 62, wegen der schmal bemessenen Altersrente und so. Sie hat nämlich einen Wunsch, sie will einmal im Leben noch die Ostsee sehen und weiß, dass sie ohne die reguläre Rente sich das nur wird leisten können, wenn ihr Kegelclub für sie sammelt. Was der Club auch schon begonnen hat, aber sie kann es nicht annehmen, da hat sie ihren Stolz.
Jedenfalls war sie bei der Betriebsärztin und als sie zum Termin dorthin kam, hat der Chef gesagt, kann ich da mitkommen, und sie, Wikiwaki, hat gesagt, also eigentlich nicht, und damit war´s besiegelt, uneigentlich also doch, und schließlich sei sie quasi mit dem Chef befreundet und könne das nicht abschlagen, der kenne sie ja auch schon über 20 Jahre. Ich entgegne so trocken wie´s geht, also, das ist gegen unseren Fokus, sie wollten doch nichts mehr machen, was sie gar nicht wollen, und jetzt war ihr Chef dabei. Das habe sie sich schon gedacht, dass ich das sage, und ich hätte ja recht, weil ihr Chef habe nur ein Interesse, nämlich dass sie keinen anderen Arbeitsplatz im Betrieb bekäme, sondern ihre alte Arbeit weiter mache, weil dafür werde er niemanden finden, ich habe das Ganze aufgebaut. Ihre Betriebsärztin habe gesagt, auf keinen Fall könne sie die alte Arbeit wieder aufnehmen, die sei zu stressig für sie, sie, die Betriebsärztin, kenne sie doch schon 20 Jahre und ihre Arbeit, die sie da mache, kenne sie auch. Das hätte Wikiwaki entlastungsmäßig total gut tun können, hat es aber nicht, weil sie fühlt sich jetzt total schlecht. Ich frage, was sie damit meine, biete verschiedene sprachliche Alternativen an zu „total schlecht“ wie etwa Simulantin sein, faul sein, Übelkeit im Magenbereich haben, ein Sünder vor dem Herrn sein oder verdorben sein wie matschig gewordenes Obst. Und sie erzählt mir, das Gefühl, total schlecht zu sein, sei nix von alldem, was ich bisher gesagt hätte; das könne ich alles stecken lassen. Letzteres hat sie nicht direkt gesagt, aber gedacht, da bin ich mir sicher. Danke, dann war das nicht mein Tag. Total schlecht, fährt sie also nicht ohne belehrenden Unterton fort, bedeute, dass sie sich total egoistisch fühle, wenn sie versuche, auf Sparflamme wieder in den Betrieb einzusteigen, wo sie doch den Chef dann hängen lasse, und außerdem habe sie doch alles aufgebaut, was sie jetzt einer Nachfolgerin, die nach kurzer Zeit Burnout davon haben würde, mit fiesem wissendem Grinsen überlassen würde. Ich entgegne, das mit dem Fokus sei bei Leuten, mit denen man seit 20 Jahren befreundet sei, wohl besonders schwierig. Sie fasst sich ein Herz und sagt mir, eigentlich habe dieses Schlechtigkeitsgefühl schon während der letzten Therapiestunde total von ihr Besitz ergriffen und sie habe sogar an einen Schnellschuß gedacht. Ich Naivtherapeutin hatte nix davon mitgekriegt und kombiniere jetzt rückblickend, dass sie keinen Revolver besitzt, also nicht dass ich wüsste, und auch nicht selbstmordgefährdet wirkt, und dass sie wohl etwas anderes meint mit dem Wort „Schnellschuß“, als Abtreten. Sie habe sich derartig geschämt, auch vor mir, weil sie sich schlecht fühlte, so dass sie überlegt habe, nicht mehr weiter zur Therapie zu kommen, doch dann habe sie sich gesagt, über 20 Jahre den Kopf hingehalten, jetzt darf ich mal egoistisch sein, und heute früh habe sie sich sogar auf die Sitzung gefreut.

Wikiwaki wechselt dann das Thema, aber nur scheinbar, sie erzählt, gestern habe sie eigentlich wenig Schmerzen gehabt, sei aber trotzdem total fertig gewesen. Das interessiert mich, ich habe mich von der rüden „Lass-Stecken“- Geste erholt und will wissen, was das bedeutet, wenig Schmerzen und trotzdem fertig, denn da kündigt sich schließlich sowas wie Leib-Seele—Differenzierung an. Sie sagt, das fertige Gefühl liege daran, dass ihre ältere Schwester zu Besuch war; ihre ältere Schwester sei schon seit zwei Jahrzehnten frühberentet und habe zig Therapien hinter sich. Die habe viel gelesen, auch von FREUD. Sie habe ihr gestern als Mitbringsel ein Pixiebuch geschenkt, die „Häschenschule“. 


Umstrittener  pädagogischer  Klassiker
in  Sachen  Ohren  anlegen  und  durch

Als Wikiwaki das Wort „Häschenschule“ ausspricht, muss ich in mich reinlächeln, weil sie sagt es so goldig-andächtig. Hätte sie Schlappohren, wären die in diesem Moment total angelegt gewesen. Die Schwester habe ihr einen Vortrag gehalten darüber, dass sie als Kinder immer die Häschenschule hätten lesen müssen, und dass die Eltern so streng waren wie der Lehrerhase, und dass Gefühle bei ihrer Mutter nichts gegolten hätten. Das sei doch vielleicht gar nicht so abwegig, versuche ich einzuflechten, aber sie hat schon Fahrt aufgenommen und versichert mir nochmals, nach dem Besuch der Schwester, der zweieinhalb Stunden gedauert habe, sei sie total fertig gewesen. Ich gucke auf die Uhr, Zeit für Affektklarifizierung, und frage „total fertig, warum?“ Auf diese Frage scheint sie gewartet zu haben wie die Wespe auf das Honigglas. Frau W. kippt daraufhin nämlich innerhalb weniger Sekunden in einen Schimpfmodus. Erstens habe sie die Häschenschule nämlich noch, im eigenen Keller, sie wisse genau, wo. Zweitens brauche sie kein Pixiebuch, das nur 50 cent gekostet hat, nicht mal ausradiert sei der Preis gewesen. Sie sei kein Leselernkind. Und drittens habe ihre Schwester auf sie eingeredet wie der Lehrerhase höchstpersönlich, ihre Schwester habe das ganze Thema der strengen Kindererziehung und des Hinter-die-Löffel-Gebens zwar angeprangert, aber eigentlich dauernd dasselbe gemacht, nämlich oberlehrerhaft auf sie eingeschwätzt. Es wäre ihr, viertens, viel lieber gewesen, mal im Park spazieren zu gehen statt sich diesen Psychokram anzuhören, zumal sie doch gestern einen schmerzarmen Tag gehabt hatte und es sich hätte leisten können, sich mal ausgiebig zu bewegen. Aber sie wisse, es wäre sinnlos gewesen, das der Schwester zu erklären, weil die das gar nicht merke. Dafür merke ich was, ich beginne, mir Wikiwaki als Häschen vorzustellen und sehe einen Lachanfall kommen. Ich kündige ihr schon mal an, also es könnte sein, dass ich innerhalb der nächsten Viertelstunde lachen müsse, das passe gar nicht zum Thema Fertigsein, aber ich könne es kaum noch unterdrücken, weil ich mir das halt bildlich vorstellen würde. Wikiwaki gerät erst etwas aus dem Konzept und dann beginnt sie, sich das auch bildlich vorzustellen, also jetzt kapier´ ich´s, warum sie lachen, wenn meine Schwester der Lehrerhase ist, dann bin ich ja wohl das Häschen! Dann muss sie auch lachen, Glück gehabt, doch noch mein Tag.

Den Rest der Stunde reden wir, um nach dieser doofen Schwesternaktion noch ein bisschen Restniveau zurückzuerobern, über die Erziehung in den Fünfziger Jahren und dass da einiges schief lief und dass sich die Mädchen von damals sogar heute noch oft schlecht fühlen, wenn sie nicht spuren. Obwohl sie gar nicht mehr hinter die Löffel kriegen, nicht einmal von Betriebsärztinnen oder Psychotherapeuten.


Margarethe  war  heute  in  der  
Sitzung  besonders  fleißig !

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