f Psychogeplauder: Bonus track

Dienstag, 17. Juli 2018

Bonus track



Der  argentinische  Tango
kennt  viele  Varianten


Kennst du das Gefühl, dass aus einem Provisorium, einer spontanen Aktion oder einer völlig unangestrengten Arbeitseinheit das Beste herauskommt
von allen anderen Versuchen? Okay, wenn Du zenmäßig unterwegs bist oder buddhistische retreats kennst … dann ist es ja kein Lebenshilfegeheimnis, das berühmte  Lass´ los und gewinne!  Aber für uns Normalsterbliche im nördlichen und westlichen Europa gilt doch eher die Prämisse, dass nur die stetige Arbeit von Erfolg gekrönt ist und dass man sich krumlegen sollte, um etwas zu erreichen. Das protestantische Arbeitsethos tut ja da sein übriges. Doch gibt es beeindruckende Ausnahmen, wie mich die Behandlung von Morena lehrte. Morena war eine intelligente, gebildete Argentinierin, deren Sensibilität mich beeindruckte. Sie litt unter einer so ausgeprägten Depression, dass es mir in der Anfangsphase der Therapie etwas mulmig war, da sie ihr Leben nicht mehr lebenswert und sich selbst völlig niedergeschlagen fühlte. Kurz: sie wollte nicht mehr. Morena, eine attraktive und, wie du dir denken kannst, von ihrer Grundpersönlichkeit her temperamentvolle Frau Mitte 40, hatte sich an den falschen Mann gebunden und diese Fehlentscheidung auch noch mit zwei aufmüpfigen Töchtern und einem spießigen Reihenhaus, für das man sich verschuldet hatte, zementiert. Sie beschuldigte abwechselnd sich und das Schicksal des Scheiterns, das ihr ganz offenbar zugeteilt war wie ein Fluch. Da sie schon früher zweimal in  einer psychotherapeutischen Behandlung gewesen war, konnte ich über ihre lateinamerikanische Fluch-Theorie hinaus außerdem davon ausgehen, dass es offenbar nicht gerade leicht war, Morena dauerhaft mit den Mitteln der Redekunst weiter zu helfen. Wir waren also schon viele Monate redekünstlerisch tätig, als eines Morgens, einen Tag nach der üblichen Sitzung, mein Telefon klingelte. Morena war dran, das erstaunte mich, da sie zu jenen Nähmaschinen-Patienten gehörte, die regelmäßig wöchentlich, absolut zuverlässig und ohne Ausnahmen zur Therapiestunde kommen, ohne jemals zwischendurch Lebenszeichen zu geben. Sie weinte am Telefon und sagte, es sei „etwas in ihr aufgebrochen“, da werde sie nicht mit fertig. Ich bot ihr noch am gleichen Tag eine Sondersitzung an. Meine terminplanerische Hektik speiste sich gleich aus zwei Quellen. Erstens hatte ich Sorge um sie und befürchtete Selbstmordgedanken, und zweitens hatte ich auch Sorge um unsere therapeutische Beziehung, da ich sie, ohne es zu wissen, ja vielleicht in der vorangegangenen Sitzung gekränkt und somit Anteil an ihrer derzeitigen Krise haben könnte. Als sie dann am Abend, der normalerweise dem Kochen oder den 19 Uhr - Nachrichten gewidmet ist, zur Extrastunde kam, konnte ich schon in den ersten Minuten aufatmen. Weder war sie selbstmordgefährdet, noch ging es ihr um irgendetwas, was ihr in der Therapie in den falschen Hals geraten war; sie berichtete mir, dass ihr in der gestrigen Sitzung einiges klar geworden sei über ihre Ehe und wie sie ihre schwierigen Kindheitserfahrungen darin wiederhole. Den Rest der Stunde weinte sie ununterbrochen, während sie, so gut es nasenschneuzend eben ging, verschiedene Ereignisse und Selbstbeoachtungen aus ihrer Lebensgeschichte erzählte. Im Grunde kannte ich das meiste schon, aus früheren Sitzungen. Ich wusste nicht so richtig, was ich machen sollte. Vermutlich aus Erleichterung, keinen erkennbaren Fehler gemacht zu haben und auch keine notfallmäßige Klinikeinweisung in die Wege leiten zu müssen, entspannte ich mich zur abendlichen Stunde einfach und beschloss, Morenas traurigen Bericht laufen zu lassen und einfach nur zuzuhören. Es war mir klar, dass dieser erhitzte Reaktor vorsichtig und ohne Eile heruntergefahren werden musste. Ich litt mit ihr mit, blieb aber weitgehend stumm, weil es meinem Eindruck nach weder Platz noch Notwendigkeit gab, irgendetwas zu kommentieren. Da ich sie im Anschluss an meine reguläre Arbeitszeit hatte kommen lassen, dämmerte es draußen schon und ich vergaß, auf die Uhr zu schauen. Schließlich war es aber meinem Gefühl nach dann doch Zeit geworden, die Sitzung zu beschließen, und ich fragte sie am Schluss etwas unsicher, ob es ihr besser gehe; da sie ja im Grunde nur geweint und ich nichts getan, gedeutet, konfrontiert, bekräftigt oder sonstwie hinterfragt hatte, empfand ich diese Extrasitzung wie einen potentiell unerlaubten Luxus, so dass mir wenigstens dessen pflichtgemäße Evaluation geboten schien. Sie lächelte mich unter Tränen, schon im Aufstehen begriffen, an, und sagte: „Gemeinsam weinen ist auch eine Hilfe!

Rückblickend auf den weiteren Verlauf der Behandlung wurde mir deutlich, dass es diese Therapiestunde zu sein schien, dieses unerwartete Zusatzgespräch, in dem ich nichts plante, erreichen oder methodisch durchdeklinieren wollte, welches den Wechsel zur Besserung ihrer Depression gebracht hatte. Morena hatte es zunächst spontan auf die Gemeinsamkeit des geteilten Affektes bezogen; zum Ende der Therapie teilte sie mir dann mit, es sei vielleicht gar nicht die Sitzung selbst gewesen, die ihr geholfen hätte, sondern mein Kommentar am Telefon, als sie angerufen und mitgeteilt hatte, es gehe ihr schlecht; ich hätte als erstes gesagt, das tue mir leid, und das habe sie nicht erwartet, das sei eine sehr wichtige Erfahrung für sie gewesen.

Manchmal vergessen wir, dass jenseits der vorgegebenen, wissenschaftlich ausgearbeiteten Theorien sich Wirkfaktoren ergeben, die wir gar nicht auf dem psychotherapeutischen Radarschirm hatten. In den USA, der Wiege nicht nur des Schlechten, sondern auch des Neuen, hat sich eine psychotherapeutische Theorie formiert, die den Holprigkeiten und Sprüngen des therapeutischen Prozesses auf die Spur kommen und in ihnen sogar die Hauptwirkung erkennen will. Sie entstehen durch Zufälle, unbeabsichtigte Kleinigkeiten oder intuitive Randbemerkungen, so wie die Zusatztitel auf manchen Schallplatten oder Compaktdisks, die nicht zum Stil der restlichen Titel passen, dem Hörer aber nicht vorenthalten werden sollen, manchmal sogar als „Ausschussware“ des Aufnahmestudios eher der anekdotischen Anreicherung der Haupttitel des Tonträgers dienen und den musikalischen freaks vorbehalten sind, die bereit sind, ein bisschen mehr Geld als üblich für das akustische Vergnügen auszugeben. Ich glaube, hätte Morena nicht angerufen, hätten wir wie immer politisch korrekt weitergearbeitet und diese besondere Begegnung hätte gefehlt – auch wenn wir weitere 250 Sitzungen weitergewerkelt hätten. Was wieder einmal zeigt, dass jenseits des Planbaren das eigentliche Leben zuhause ist.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen