f Psychogeplauder: Psy-ästhet

Sonntag, 3. Juni 2018

Psy-ästhet


Ein  innovatives  Programm
gegen  die  Verrottung



Bei der Generierung von Selbstzahlerleistungen in der Medizin, auch als Igel*-Leistungen bekannt, dachten die von ihrer existentiell wichtigen Kunst einfältig hingerissenen Psychotherapeuten ja lange, sie seien vorn mit dabei. Insbesondere Coaching-Angebote erfreuten sich großer Verbreitung, aber auch die Behandlung von Flugängsten und Eheproblemen sowie Wünsche nach energetischem Auspendeln avisierter neuer Partner oder nach Akupunktur gegen Familienstress gingen dabei haufenweise über den therapeutischen Ladentisch. 
Neulich ist mir aufgefallen,
dass wir Therapeuten diesbezüglich von den anderen Fachgebieten längst rechts überholt worden sind. In meinem Alter hängt man ja doch gelegentlich selbst in Wartezimmern der Körpermediziner herum. Und die Arzt-geht-zum-Arzt-Schrecksituation beinhaltet, unter anderem, den distanziert-skeptischen Blick auf das jeweils aufgesuchte Unternehmen des Kollegen. Nun möchte ich aber gar nichts Negatives darüber äußern, wie meine eigenen Arztbesuche verliefen. Im Gegenteil; ich wurde bisher stets freundlich empfangen, bestens (allerdings meistens ultrakurz, den Sprechen wird bei diesen Fachgruppen im Gegensatz zu meiner Zunft nicht bezahlt) beraten und nach neuesten Standards qualitätsgesichert behandelt. Aber während man da so sitzt und wartet … gibt es ja wahre Entdeckungen, was man sonst noch so alles beim Arzt bekommen kann. Zum Beispiel kannst Du als jenseits der 50 befindliche Frau, anstatt Dich selber durch Bewegen und Nicht-allzu-dick-werden, zur Prävention von Blasenschwäche auf so bestimmte elektrische Stühle legen. Wie praktisch. Die nehmen Dir quasi das Beckenbodentraining ab und wenn du jede Woche nicht nur dich, sondern zusätzlich 20 Euro hinlegst, kriegst Du so eine Übungs-Einheit. Die schenkt dir dann eine kleine vibrierende Powermaschine im Sitz, die sich vermutlich, in Anlehnung an eine bekannte Hygienebinde, Tena - Star nennt oder Ladydryer oder Safer–laughing-Boy oder so. Arme Rentnerinnen werden auf diese Weise abgezockt, anstatt dass ihnen erklärt wird, was sie selber tun können, wenn aus Versehen etwas in das Höschen geht. 20 Euro pro Woche finde ich persönlich ja, da ich keine arme Rentnerin bin, gar nicht so schlimm. Teurer wird´s aber unter Umständen bei den Nahrungsergänzungsmitteln, die von bösen, allerdings wissenschaftlichen, und somit konservativ schulmedizinisch verseuchten Zungen als Vorstufen „teuren Urins“ verunglimpft werden. Sei´s drum, wer dran glaubt … kann ja jeden Morgen etwas einnehmen. Aber irgendwie schräg finde ich es schon, wenn man zum Allgemeinmediziner X geht und der rät, wirklich ganz dezent, und erst zum Schluss quasi unter der Türe, sich doch mal einen Flyer mitzunehmen, falls sie noch mehr für sich tun wollen. Wer will das nicht. In dem Flyer findet man, schon auf dem Heimweg wie ein nervöser Junkie nach Stoff stöbernd, tolle Angebote, stets mit in kursiver kleiner Schrift untertitelten Kundenrezensionen, wonach sich Dir unbekannte Menschen namens „Uwe L. aus D.“ durch die Einnahme von Carnitin und einem bestimmten Foreverpowerdrink bereits nach wenigen Wochen täglicher Anwendung viel fitter fühlten! Da wäre man dann monatlich, nimmt man das Vierteljahres-Sparpreispaket, mit 149,95 € dabei. Ach was, denkt man sich, statt immerzu Essengehen mit Ina, die sowieso immer bloß einen Salat nimmt und dann nicht zufrieden ist … investiere ich doch lieber in meine Gesundheit. Der Flyer ist übrigens zufälligerweise von der Ehefrau oder der neuen Lebensgefährtin des Allgemeinarztes lanciert, und jetzt siehst Du auch klarer, warum vom Praxisflur aus hinten links neuerdings eine hellgrün gestrichene Tür ins Auge fällt, auf der ein Schild mit irgendwas mit „Vita“ angebracht ist. Aber man kann auch in die Hunderte oder Tausende Euro gehen, wenn´s um die eigene gesundheitliche Optimierung geht. Sehr beliebt sind hierbei, meist orthopädischen Praxen angeschlossene, „Institute“, die mit Wellen behandeln. Super Sache. Tut nicht weh. Schadet nicht. Jahrzehntelange Arthroseschmerzen sollen dadurch gelindert werden. 

Die beste Selbstzahlerleistung von allen ist aber zweifellos eine Leistung, die sich der Schönheit annimmt. Gehst Du beispielsweise zum Hautarzt, dann erwartet Dich oft ein in der Praxis integriertes kosmetisches Angebot. Diese Kombination fand ich in früheren Jahrzehnten absolut naheliegend, sinnvoll und menschenfreundlich. Geplagte Teenager beiderlei Geschlechts, die von schwerer Akne befallen waren, durften vorm Abiball zu einer in der Praxis meistens fest angestellten Kosmetikerin gehen, und außerdem jene bedauernswerten Menschen, die durch die Weißfleckenkrankheit, durch erlittene Verbrühungen oder durch angeborene Gefäßdefekte im Gesicht entstellt waren. Die Kosmetikerin zeigte ihnen, wie sie trotzdem schön aussehen und sich unter Leute wagen konnten. Dafür lernten die Patienten – die ich hier wirklich Patienten, also Leidende, nennen möchte – die Kunst der Camouflagetechnik und wenn eine Hochzeit, ein Tanzstundenabschluss oder ein wichtiger Phototermin anstand, gingen sie hin und waren der Kosmetikerin dankbar und jahrelang treu. Heute findest Du eine Kosmetikerin seltener in Hautarztpraxen – denn der Arzt nimmt sich der Kosmetik selber an. Invasiv, nichtinvasiv, aber auf jeden Fall innovativ. Interessanterweise habe ich neulich wegen einer blöden Zehennagel- Geschichte bei einem Feld-Wald-Wiesen-Chirurgen vorsprechen müssen. Also jedenfalls dachte ich, es sei ein Feld-Wald-Wiesen-Chirurg. Es gab ein linkes und ein rechtes Wartezimmer. Im linken Wartezimmer war es proppenvoll, vom Arbeitsunfall eines biertechnisch nicht ganz sauberen Maurers mit Kopfplatzwunde bis zur hinkenden Oma mit Hühneraugenproblemen und Gehwagen war alles vorhanden, was Du Dir so denken kannst; beim Chirurgen ist ja der Anlass deines Kommens - anders als beim Psychotherapeuten – für jeden da ebenfalls herumsitzenden Laien mit bloßem Auge oft sofort erkennbar. Drei ausgewachsene männliche Chirurgenexemplare, optisch nett, vielleicht nicht ganz so attraktiv wie im Fernsehen, hatten viel zu tun. Und trotzdem: im rechten Wartezimmer, in dem ich nach einer kleinen Fußoperation Platz nehmen durfte, um meinen dick verbundenen Fuß hochzulegen, war zwar menschenmengenmäßig nichts los, dafür aber infomäßig. Du konntest dort nämlich fernsehen. Nicht eine alte Folge vom „Bergdoktor“ oder von „Doktor Sommer, der Arzt, den die Frauen verstehen“ – oder war es umgekehrt? Sondern Du konntest Dich über die neuesten Methoden zur Hautverjüngung informieren. Die Rede war hier von „Betroffenen“ und „Patienten“. Das wunderte mich, hatte sich in der Psychotherapie aufgrund einer wachsenden political correctness der Begriff „Klienten“ doch gerade eingebürgert, wenn es um Anliegen ohne Krankheitswert ging, deren Behandlung nicht von der Krankenkasse bezahlt werden durfte. Es wurde mir hier, noch leicht von der Anästhesie benebelt, schlagartig klar: Es gab so viel Leiden in der Welt, angesichts der in Großaufnahme demonstrierten Krähenfüße, Stirnfalten und herunter hängenden Lider! Der Name der Praxisinhaber tauchte immer nur diskret, am Ende der kleinen Videos, auf – so als hätten sie selbst noch Hemmungen, mit ihrem persönlichen Schriftzug dahinter zu stehen. Dabei war es doch sonnenklar: diese Patientinnen (und, kleingedruckt angemerkt, Patienten) leiden unter einem suboptimalen Äußeren, welches nicht zu ihrer sonstigen beruflichen und Alltagsvitalität passt und dem modernen selbstbewussten Menschen bei dessen persönlicher Entfaltung hinderlich ist.

Nachdem mein Op-Schock verdaut war und meine Großhirnregion in ihrer scheinbar vollen Funktionalität angelangt – hatte ich, während ich dort saß, eine klare Vision: wir Therapeuten könnten ebenfalls in das Beautygeschäft voll einsteigen! Statt „Mens sana in corpore sano“ könnten wir von „Mens sana in corpore bello“ sprechen. Oder, noch besser, durch Umdrehen ein bisschen aufgepeppt und kausal neu zusammengesetzt: „Corpore bello in mens sana“. Einen schmissigen Namen bräuchte ich für die ganzheitliche Erweiterung meines Spektrums natürlich auch noch.



Psy – ästhet



Das neue Angebot würde als Institut deklariert, ich könnte dafür meine Teeküche opfern, um den Hinter-der-Tür-Effekt zu generieren, und natürlich würde ich die Kunden, äh Patienten, voll aufklären: dass sie ihr geistig-seelisches  Potential am besten abrufen könnten, ihr Selbstbewusstsein am optimalsten in Szene setzen und ihre Performance in Beruf und Gesellschaft sicher steigern würden: vor hellem Gelb würde in eleganten Lettern stehen : 

Beratungstermine nach Vereinb.

Von der Reihenfolge der Eingriffe  her würde ich dann empfehlen: erst, auf Selbstzahlerbasis, die körperliche Schiene abklären und aufarbeiten und dann sich ein genaues Bild von der seelischen Restsymptomatik machen. Das Thema Endlichkeit, Altern, Nachlassen der Kräfte, also kurzum, der ganze depressive Bereich, bis hin zum Nichtigkeitswahn und zum Schuldkomplex gegenüber dem langjährigen treuen Partner, der einen bei der Heirat doch mal ganz anders in Erinnerung hatte, wäre durch die ästhetischen Eingriffe schon mal grundlegend einiges aus den klassisch-psychiatrischen Gefilden abgefedert. Die Anzahl der sich anschließenden Therapiegespräche, sofern noch nötig, könnte deutlich reduziert werden.

Ach, genial!

Leider ließ in dem Moment, als ich mir über die kluge Verwendung meiner zukünftig sprunghaft ansteigenden Gewinnspanne Gedanken machen wollte, die Anästhesie nach. Auf den Boden der Tatsachen gesunken, hirnte ich noch kurz über die Warenwelt der Medizin herum. Und ließ mich mit dem Taxi nach hause fahren. Denn morgen wartete wieder ein anstrengender Praxis-Tag. Ich hoffte, ich würde mein ganzes Potential wieder abrufen können. Auch ohne die Igel-Dienste der Chirurgen. Eine wahre Herausforderung. Am meisten hoffte ich, dass es die Praxis, sollte mein anderer Fuß mal Probleme machen, überhaupt noch geben würde. Denn im angeschlossenen, in den kommenden Jahren bestimmt boomenden Beautyinstitut würden sich die drei Chirurgen wohl kaum eines entzündeten Nagelbetts annehmen können. Aber vielleicht würde die Teilextraktion eines Zehennagels wenigstens noch als Selbstzahlerleistung durchgehen. Hinterher ist man glücklicher. Eine ganzheitliche Sache eben. Insofern jeden Euro wert.


* Igel:  Abkürzung für Individuelle Gesundheitsleistung

Graphik: http://www.clipartsfree.de/

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