Ich hatte schon lange mal was zum Thema Migräne schreiben wollen, weil ich finde, die Migräne ist eine besonders verrückte Krankheit, die besonders unverrückte Menschen trifft.
Okay, da haben wir als berühmte Krankheitsträger solche Leute wie Friedrich Nietzsche, Ludwig van Beethoven oder Vincent van Gogh. Und auch, ihn möchte ich hier nun nicht auslassen bei den Kopfschmerzgeplagten dieser Welt… Siegmund Freud soll Migräniker gewesen sein. Verrückte? Alles in allem waren die ja vor allem … ziemlich fleißig und schrieben, komponierten, malten und analysierten zuverlässig und artig vor sich hin. Naja, wirst du einwenden, es waren schon Verrückte, van Gogh war ja eine absinthtrinkende wandelnde Normvariante (wahrscheinlich hat er aber bloß seinen Kopfschmerz im grünlichen Gesöff ertränkt). Und der bedauernswerte Nietzsche war ein von seinen Migräneattacken gebeutelter, oft tagelang schwer bettlägeriger Gotteslästerer, so dass man als mittelguter Christ schon beim puren Lesen seiner Werke erröten, in schlimmeren Fällen aufgeregt mit den Ohren wackeln muss – welche sich van Gogh sogar abschnitt, also das linke wenigstens. Vom sogar taub noch weiterkomponierenden Frauenphobiker Beethoven ganz zu schweigen. Von wegen unverrückte Menschen. Als besonders intelligent werden sie oft bezeichnet, als Gehirne nahe am genialischen. Das halte ich aber alles für ziemlich aus der Luft gegriffen. Denn es gibt Tausende von Leuten, die gar nicht berühmt oder genial sind und einfach bloß Migräne haben. Dass da so ein, sagen wir mal, leicht aufgeblähtes Bohai draus gemacht wird, hat nicht etwa zufällig was damit zu tun, dass diejenigen, die im Rampenlicht stehen und Migräniker sind, ihre im Volksmund ziemlich verspottete Erkrankung ein bisschen aufpolieren wollten? Und dass man viel weniger berühmte Frauen findet mit Migräne, sondern immerzu auf Migränemänner stößt, hat nicht etwa zufällig was damit zu tun, dass Frauen und Migräne … schweigen wir lieber. Also da etwa 70 Prozent der Migräniker Frauen sind, vermute ich, es gibt total viele berühmte Frauen mit Migräne, aber die sagen´s vorsichtshalber nicht und hüten dieses potentiell stigmatisierende Geheimnis bis ins Ehrengrab. Dann gibt es auch noch diese tolle, zwar wissenschaftlich noch nie belegte, aber umso hartnäckigere Theorie, dass die Migräne „seelisch“ verursacht sei und dass die Migräniker typische Vollehrgeizlinge sind, zwanghafte, sparsame Erbsenzähler, total perfektionistisch, leistungsfähig wie Miele-Staubsauger und emotional kalt wie Hundeschnauzen. Ob das vielleicht auch damit zu tun hat, dass Migräniker im Laufe ihrer Krankheitserfahrung nolens volens ihren Alltag zu planen beginnen, sich Lebensführungsdisziplin zulegen und wenn es ihnen zum Kotzen ist, keine geselligen Zusammenkünfte pflegen mit Rumpsteak und Bier … könnte ja eigentlich auch eine Erklärung sein, oder?
Dennoch muss ich sagen, so ein waschechter Migräniker kann schon mal hämische Vorurteile auslösen.
Einmal behandelte ich einen Mann, der mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen kleinen Söhnchen zusammenlebte. Je länger ich ihn kannte und Einblick nehmen konnte in seinen Alltag, desto mehr regte ich mich auf, allerdings nicht etwa über ihn; obwohl er wegen heftiger eigener körperlicher Probleme gekommen war, hatte ich nur noch Ohren für seine Schilderungen der Partnerin; ich war schließlich kaum noch zu beruhigen, denn sie ging mir furchtbar auf die Nerven und ihr Lebensgefährte, mein Patient, tat mir zunehmend leid, weil er mit so einer nervenaufreibenden Zimtzicke, einer hysterischen Kopfwehdiva, zusammenleben musste. Bevorzugt an den Wochenenden, ha, an denen sie beide, jeder beruflich eingespannt, etwas hätten unternehmen und Zweisamkeit pflegen können, legte sie los, ihre Migräne. Die Gefährtin mutierte dann zum Haustyrannen. Die Rollläden durften nicht nach oben gezogen werden und die Schlafzimmertür nur in wichtigen Fällen geöffnet. In der Küche und im Wohnbereich durfte nicht laut telefoniert oder mit dem Sohn gespielt werden. Er (der Sohn) durfte nicht schreien und es durften keine Speisen mit starkem Geruch gekocht werden. Mein Patient hatte sich angewöhnt, Samstag morgens für ein paar Stunden das Haus zu verlassen, um ein bisschen weiterleben zu können, was ihm aber vorgehalten wurde, wie kannst du mich so allein lassen. An Liebesfreuden körperlicher Art war schon lange nicht mehr zu denken gewesen, denn an den Wochenenden, die sich hierfür rein zeitlich und musetechnisch eventuell geeignet hätten, war ja Migränezeit und sie konnte ihn während solcher Phasen nicht riechen. Der kleine Sohn litt lange unter schlechtem Kindergewissen, weil er immer dachte, er hätte was falsch gemacht, die Mama zu viel geärgert und jetzt sei ein wilder Vogel in ihrem Gehirn und zerfresse sie. Das konnte ihm der Papa, mein Patient, mit der Zeit ausreden, aber leichter wurde es nicht. Die Sumerer haben ja noch versucht, die schlechten Dämpfe durch Schädelöffnen aus dem Kopf des Patienten rauszukriegen, aber diese Technik hat man dann doch zur Erleichterung aller nachfolgenden Schädel verlassen, zumal es nur die Hälfte aller Schädelinhaber überlebten. Vater und Sohn gingen mal samstags aus lauter Frust in ein feines Café und bestellten Cremetorte, während diese theatralisch übertreibende hysterische Migräneschlampe zuhause sich wieder mal ihre Auszeit nahm. Das Kaffeehausevent endete im peinlichen Erste-Kindheitserinnerungs-Desaster, denn der Sohnemann, offenbar für Cremetorte plus heisse Schokolade nicht gemacht und optisch durch die Übelkeitsattacken seiner Mama gut trainiert, erbrach das Ganze über den elegant lasierten Ahorntisch und sparte auch den Teppichboden nicht aus. Vermutlich wollte sein Unterbewußtsein, wenn er schon an jenem Tage nichts von seiner Mutter hatte, wenigstens dasselbe machen wie sie: Kotzen. Ende einer Kaffeefahrt.
Das zur Abteilung Häme.
Und jetzt kommen wir zur Migräne.
Erst merkt man sie nur ganz verschwommen; am Vorabend hört man Sachen, die man sonst nicht hört; Sirenen von weit her, das Ticken des Elektroweckers im Zimmer nebenan, den telefonierenden Mitbewohner hinter verschlossener Türe. Man hat dann am nächsten Tag vormittags weniger Durst und Wassertrinken ist irgendwie unangenehm oder wird einfach vergessen. Manchmal verwechselt man beim Sprechen Wörter: sagt "verkleben" statt "vergeben". Dann, ganz langsam, kriecht da ein bohrender Schmerz rein in den Kopf: manchmal wie ein Wurm, der sich in aller Seelenruhe durch die Hirnwindungen einer Kopfseite fräst und immer größer wird und unerbittlich. In anderen Versionen beginnt´s wie eine Symphonie, mit einem krassen Paukenschlag im Stirnbereich, da feuert es plötzlich mit einer symmetrischen Breitseite und du weißt ziemlich schnell bescheid. Du beginnst dir – pardon - ständig vorzustellen, dich zu übergeben, weil allein die Vorstellung dich etwas befreit. Stellst dir die Kloschüssel vor, egal was du gerade tust oder wo du dich befindest. Der Schmerz wird stärker. Jetzt ist er schon so fies, dass es nicht hilft, sich abzulenken. Du kannst dich nämlich nicht mehr ablenken. Der Schmerz wird noch stärker. Du musst dich flach hinlegen. Aufstehen oder dich zur Seite drehen überlegst du dir dreimal, weil du es mit noch mehr Schmerz bezahlst. Plötzlich geht es los mit einer ekelhaften Übelkeit und du erreichst gerade noch das Bad. Elend. Kurze Zeit Erleichterung. Der Schmerz macht weiter, immer weiter. Keine Pause. Er hindert dich einzuschlafen. Dir ist so schlecht, dass du mit Grauen dran denkst, vielleicht nochmal ins Bad rennen zu müssen, was ein Schmerzgewitter auslöst. Deshalb ziehst du, reumütig deine ästhetischen Ansprüche auf Null schraubend, einen kleinen roten Plastikeimer vor, der am Bett Wache schiebt. Das Grauenhafteste und leider gar nicht seltene ist die Variante Morgenröte mit Hirngeflöte. Du wachst mit der gleichen Migräne auf, mit der du irgendwann inmitten der Nacht erschöpft und gerädert in den Schlaf gefallen warst. Das ist grausam, weil es den Tag zwei der verlorenen Tage deines Lebens ankündigt. Im Bett liegend geht es noch, einigermaßen, Aber dann stehst du auf, und weil du deine Lage geändert hast, flattert ein schmerzendes Gewitter durch deinen Kopf. Nach Stunden wechselt der Schmerz ungeniert die Seite. Um dann, ätsch, manchmal nochmal zum Ursprung der Attacke zurückzukehren. Du bewegst dich langsam, bloß keine Erschütterungen. Denkst, ich sollte mal was trinken. Hast Hunger, traust dich aber nicht so recht, etwas zu essen, wegen der Plastikeimergeschichte. Irgendwann, vielleicht am dritten Tag mittags, ebbt es ab. Ist plötzlich verschwunden. Und du neugeboren.
Kein Wunder, dass die oben erwähnten berühmten Migränemänner so tolle Werke vollbrachten: Einstein zum Beispiel seine Relativitätstheorie. Denn wenn dein Gehirn einen Systemabsturz hinter sich hat und zwangsabgeschaltet war, dann ist die Phase nach dem Ende des Alptraums ein Hochgenuss. Du könntest Bäume ausreißen. Da bist du natürlich hochkreativ, und wenn du zufällig sowieso ein Genie bist, dann wirst du als Genie mit Migräne gewisse Schaffensüberschwünge verspüren. Es gibt ein berühmtes Jazzstück, das heißt Take five, weil es im außerordentlich ungewöhnlichen Fünf-Viertel-Takt geschrieben ist. Entgegen des üblichen Rhythmusempfindens, das Zwei-Viertel-, Drei- Viertel- und Vier-Viertel-Takte kennt, und aufgrunddessen die allermeisten Menschen nie spontan einen fünfvierteligen Takt pfeifen würden, ist dieses Stück von A bis Z in Fünf-Viertel-Takt komponiert und, das ist das seltsame, es wirkt in sich absolut harmonisch, man wippt und singt automatisch mit! Ich vermute, Migränegehirne haben auch so einen normvarianten Takt, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht harmonisch klingen wie Dave Brubecks geniales Take five. Ab und zu legen sie eine Funktionslücke ein, um sich wieder zurecht zu ruckeln, so wie der gregorianische Kalender alle vier Jahre am 29. Februar einen Schalttag einbauen muss, damit´s geordnet weiterläuft.
Vermutlich dämmert dir, warum ich auf die Lebensgefährtin meines Patienten so ärgerlich war. Therapeutenregel: Regt´s dich zu sehr auf, hat´s was mit dir zu tun.
Gewidmet allen Migränegeplagten.
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