Noch ungeplünderte Schaufensterauslage
einer Konditorei am frühen Freitagmorgen
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Den Begriff verdanke ich dem spöttisch-distanzierten, damals 18jährigen Sohn eines am Krümeltreffen teilnehmenden Mitglieds, das, immer wenn wieder das Krümeltreffen anstand und das Mitglied turnusmäßig als Gastgeber brillieren musste, bereits am frühen Morgen als erstes nicht zum Joggen oder zur Arbeit, sondern zur Konditorei eilte,
um die frischesten, besten, riesigsten und vielfältigst gemischten Kuchen- und Tortenstücke zu erstehen (mit Kassenbon), die zu Tagesanbruch noch in unangetasteter Auswahl in der Vitrine zur Verfügung des vollmotivierten Betrachters standen. So arg viel krümelten wir gar nicht, Therapeuten haben ja meistens eine stabile zwanghafte oder sagen wir wenigstens, ordentliche Seite, so dass herabfallende Kuchenteile, achtlos liegengelassen in fremden Praxen und beim Aufstehen auf der ockerfarbenen Auslegeware zum Abschied breitgetreten, nun wirklich nicht unsere Spezialität sind. Aber, so fürchte ich heute im nachdenklichen Rückblick, vielleicht hatte der Sohn ja bei der einfallsreichen Namensgebung von Anfang an nicht nur mehlteigverbappte Teppichböden im Sinne, sondern auch die verschiedenen immateriellen Abfallprodukte solcher beziehungsdichter Aktionen. Es kann halt bröseln oder, wie mein Schreiner-Vater gesagt hätte: Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne!
Meine persönlich bisher intensivste Krümelgruppe bestand über viele Jahre, und das Urteil „intensiv“ bezieht sich hierbei sowohl auf die Qualität und Quantität der jahrelang genossenen Konditorenkunst, als auch auf die Frequenz unserer regelmäßigen Treffen, den Tiefgang der fachlichen Diskussion schwieriger Fälle, die Zahl profunder Lacher solcher Stärke, dass einem hinterher der Bauch weh tat, und last-but-not-least, auch auf die Heftigkeit der kollegialen und gegen Ende hin nicht mehr ganz so kollegialen Auseinandersetzungen. Im offiziellen Sprachgebrauch handelt es sich um eine sogenannte Intervisionsgruppe, aber der Ausdruck Krümeltreffen gefällt mir viel besser, weil darin die Dramaturgie von hemmungsloser Ersatzbefriedigung, prozessbedingter Zersplitterung und unangenehmer Kollateralschäden so handlich zusammengefasst ist. Das Ganze zum Ende hin nur noch begrenzt professionell und zuweilen auch nur noch begrenzt manierlich, denn es müsste doch möglich sein, so mein sehnsüchtiges Fazit, zu essen, zu reden, zu denken und zu lachen, ohne zu krümeln. Oder ?
Wir waren zu viert, das liegt daran, dass die bereits seit mehreren Jahren als Dreiergruppe existierende Kuchenrunde eines Tages beschloss, dass „die Zahl 4 langfristig mehr psychodynamische Stabilität verspräche“ (Therapeutenregel: Triangulierung ist unvermeidbar, aber schwer). Man konnte immerhin die Quittungen für den Süsskram steuerlich geltend machen. Wo irgendwelche Finanzhaie ihre Geschäftspartner in pompösen Hotels mit den Namen Intercontinental oder L´Ambassadeur zum Vier-Gänge-Businesslunch einladen, da darf unsereins ja wohl wenigstens Himbeersahne und, mein Favorit, Moccacreme auf Kosten des Staates schlemmen. Moccacremetorte gab es nur, wenn das Gruppenmitglied eines südlichen Vororts an der Reihe war, weil dieser einen entsprechenden Konditor vorhielt, aber nun der Reihe nach, damit du dir die Teilnehmer ein bisschen vorstellen kannst.
1. FRED
Als erstes haben wir da Fred, und die assoziative Nähe zu Fred Feuerstein ist nicht zufällig. Fred – nein, nicht Freud - war Gründungsmitglied der alten, später von Triangulierungsbeschwerden heimgesuchten Gruppe, und er war schnell zu begeistern, für die Börse und deren Gewinnpotential, für neue therapeutische Techniken, Oldtimer–Autos mit Aufreißergarantie, pfeilschnelle Karrieren als Ausbilder, französische Küche und auch für sich selbst und sein therapeutisches Schaffen, und dass er der einzige männliche Krümelgruppenteilnehmer war, ist nur scheinbar der statistischen Übermacht von Frauen im Therapeutenberuf geschuldet, sondern entsprach vor allem seiner Neigung, sich als Hahn im Korb zu fühlen. Freds Falldarstellungen hatten stets den Odeur des zufällig Ausgewählten, nie brauchte er hierfür Unterlagen oder gar eigene handfertigte Notizen, er erzählte, auch hier erkennst du den francophilen Lebenskünstler, gerade so aus der lamäng und damit ist über sein berufliches Selbstbewusstsein alles gesagt. Eines muss man Fred lassen, er ließ nicht nur sich, sondern auch die anderen leben. Das konnte er wohl deshalb so gut, weil er mit sich zufrieden war und niemand etwas neidete, er war so ein bisschen der Winner-Typ, weit zu ihm angereiste promovierte Patienten, proppenvoller Terminkalender, immer auf Achse, und girokontomäßig auf der Überholspur. Was zum tieferen Verständnis der bereits angedeuteten dramatischen Endphase der Krümelgruppe nicht unerheblich ist.
2. MISS PIGGY
Eine weitere Teilnehmerin war Beate, aber ich nenne sie hier bloß Miss Piggy. Lieblingsfarbe Rosa, auch an den häufig so colorierten Oberteilen zu erkennen; „Rosa schafft Vertrauen“, sagte Miss Piggy oft, wenn man sie auf ihre Schwäche für symbolträchtige kanzlerinnennahe outfits mit Rundhals-ausschnitt hinwies, und überhaupt sprach sie gerne, zuweilen episch ausufernd, so dass du dich erstmal zurücklehnen konntest mit deinem Kuchenteller, denn statistisch dauerte es, wenn Piggy loslegte, wenigstens drei bis vier Minuten, bis du wieder was returnieren konntest. Und auf Piggy wollte man instinktiv immer returnieren. Diese Frau ließ einen nicht kalt. Ich vermute noch heute, dass sie eine uneingestandene Schwäche für Fred hegte, die sie, wie ehemals Piggy gegenüber Kirmet dem Frosch, hinter ständigem Gekeife in seine Richtung und spöttischen Kommentaren über Frauen, die spitz zulaufende Pumps tragen, gekonnt versteckte. Piggy hatte viel berufliche Erfahrung, was sie auch immer wieder in ihre messerscharf intelligenten und originellen Ausführungen (Frohgemüt, wohin du bei ihr blickst) einfließen ließ, damit die anderen es nicht vergaßen. Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie war ihr absolutes Steckenpferd und sie ließ es sich an besonders gut gelaunten Freitagen auch nicht nehmen, dem Rest der Mannschaft einige, ihrer Meinung nach, geniale Sätze aus dem Therapieantrag des gerade besprochenen Patienten zu Gute kommen zu lassen, denn da stand, quasi komprimiert aufbereitet, „das Wichtigste drin“ und sie brauchte nicht lästigerweise soviel erklären. Sie bezeichnete ihre Therapieberichte im übrigen nicht als Anträge, die man einem Gutachter vorlegen musste, sondern als „Gutachten“, da sie der Meinung war, sie und nicht der Gutachter seien die Meister der Beurteilung. Im Grunde sprach sie, gerade unter proportionaler Berücksichtigung ihrer Gesamtsprechmenge, nur selten Müll. Aber dennoch wirkte sie auf die Dauer etwas besserwisserisch und nicht immer so arg tolerant für Anderstherapierende. Was zum tieferen Verständnis der bereits angedeuteten dramatischen Endphase der Krümelgruppe nicht unerheblich ist.
3. SCHWARZWALDLIESEL
Als dritte Teilnehmerin fungierte Schwarzwaldliesel. Wo sie geboren war, war unüberhörbar, sie war unprätentiös, erdverbunden und mütterlich, und sie hatte ohne Zweifel die coolsten Räumlichkeiten, denn ihre Praxis war in so einer Art ateliermäßigem loft untergebracht. Oh, chic, denkst du jetzt erstaunt, aber das ist falsch, der architektonische Gesamteindruck der Location war weniger chic als vielmehr öko und schadstofffrei halt, denn Schwarzwaldliesel hatte einen Hang zur ästhetisch tragischen Verbindung von feng-shui und Ökologie, der sie als Expertin für alles, was lösungsmittelbasierten Kopfschmerz und unnatürliche Sahnetortenzusätze verursacht, auswies. Im Grunde hatte Schwarzwaldliesel, wenn auch Moccacremekunstwerke bei ihr nicht im freitagnachmittäglichen Angebot waren, die beste Kuchenauswahl, weil, das Wort kam oft stolz über ihre Lippen, die wirrrglich frrrischäste! Ihre Patientenvorstellungen zeichneten sich durch Ehrlichkeit aus, was den Zuhörer in das komfortable Gefühl versetzte, es schon längst und viel besser zu verstehen, was da zwischen Liesel und den ihr anvertrauten unglücklichen Seelen ablief. Liesel bewunderte insgeheim Miss Piggy, fühlte sich zugleich aber auch von ihr gelegentlich überholt und vorgeführt, nicht immobilienmäßig, aber eben was das ganze analytische Tamtam betraf, ob berechtigt oder nicht, diese Dynamik nahm ihren mehrjährigen Lauf. Was zum tieferen Verständnis der bereits angedeuteten dramatischen Endphase der Krümelgruppe nicht unerheblich ist.
4. SCHNEEWITTCHEN
Außerdem gehörte zur Gruppe noch Schneewittchen. Den Spitznamen hatte sie selber etabliert, da ihre weiblichen Freundinnen sie wohl so nannten seit Kindertagen, denn bevor sie zur graumelierten Mittelreife aufgestiegen war, hatte sie offenbar zum stets blassen Teint dekorativ ihr ehemals pechschwarzes Haar getragen. Dass wir bereits an diesem Punkt der Schilderung beim Äußerlichen angelangt sind, dürfte, wie so vieles auf dieser Welt, kein Zufall sein, Schneewittchen legte eindeutig Wert auf´s Ästhetische und dass alles zu allem passt, so dass du sicher gehen konntest, dass die diesmalige Farbe der Papierservietten, die in stand-by-Stellung aufgerollt warteten, eine angenehme Ergänzung zum Kuchendekor herstellte. Du weißt ja, sie war so schön, dass schließlich ein Prinz... aber lassen wir das an dieser Stelle, der Vergleich hätte sie vermutlich gekränkt, neigte sie doch zu einem gewissen kindlichen Idealismus, der sich auch in ihren mit tiefem Leidensdruck und dem Ehrgeiz, gordische Behandlungsknoten zu durchdringen, dargebrachten Falldarstellungen manifestierte. Wenn Piggy das Schlaginstrument des Quartetts gewesen wäre, dann würde sich Schneewittchen, sagen wir mal, als Triangel oder allenfalls warmes, aber nicht weiter störendes Cello angeboten haben, während Liesel die komplette Bühnenbeleuchtung übernahm und Fred aus dem back-off dirigierte. Schneewittchen war ein bisschen harmoniebedürftig, und wenn Miss Piggy verbal um sich schmiss, guckte sie nur ein bisschen treudoof und wartete, ob Fred zum Gegenschlag ausholte oder nicht. Was einen ebenfalls nicht unerheblichen Anteil zum tieferen Verständnis der nunmehr bereits mehrfach angedeuteten dramatischen Endphase der Krümelgruppe bietet.
Zum endgültigen showdown kam es plötzlich und wie aus heiterem Himmel. Der Besuch der Gruppe, der aus weiser Erkenntnis heraus schon seit einiger Zeit auf eine niedrigere Frequenz als früher angesetzt worden war („das nimmt ein bisschen Wucht raus“), entsprach schon eine ganze Weile nicht mehr dieser früheren Erfahrung einer gleichsam traumhaften freitagnachmittäglichen Doppelstunde; in guten Zeiten war man ins Assoziieren, Lachen, Schimpfen und kuchenorgiastische Simultanerleben einge-taucht, bis man schenkelklopfend die Zeit vergessen hatte (lediglich Fred hatte fast immer gleich danach noch einen wichtigen Termin). Für die noch lange sich hinschleppende Endphase, als man sich begann zu wappnen, nicht mehr so frei erzählte und die Kuchen auch nicht mehr so mundeten wie früher (oder war das bloß Schwarzwaldliesel aufgefallen?), würde sich tatsächlich der Vergleich mit einer sogenannten konsumierenden Erkrankung anbieten, also wir litten unter Gruppenkrebs, jeder wusste es, aber es war schwer darüber zu reden. Eines Freitags saßen wir wie immer da; es war brütend heiß, August, letztes Krümeltreffen vor der ersehnten Sommerpause in der Praxis von Fred. Er beginnt nonchalant mit einem Fall, Miss Piggy geht ziemlich früh dazwischen, Schwarzwaldliesel versucht, reinzukommen ins tragische Duett, Schneewittchen hat aufgegeben zu vermitteln und denkt nur noch dran, dass es gut ist, dass sie heute noch was Schönes mit dem Prinzen vorhat. Fred verliert entgegen seiner üblichen Seelenruhe die façon, sagt zu Piggy, das müsse er sich jetzt nicht länger geben, sie geben es sich dann aber doch, tapfer, die Konfliktlage ausleuchtend, Hin-und-her, Schneewittchen schaltet sich ein, bemerkt, es sei doch ziemlich anstrengend seit geraumer Zeit das Ganze, und Schwarzwaldliesel mahnt die Kinder mit unterdrücktem Vergnügen, man solche sich nun aber nicht die Köpfe einschlagen. Es liegt Ärger in der Luft und Fred zeigt zehn Minuten vor dem Ende, dass er der Mann im Haus ist und sagt, das reiche jetzt, und man solle sich voneinander verabschieden, und das nicht nur für heute.
Die drei Frauen hatten übrigens, in wechselnder Zusammensetzung, vor der totalen Gruppenauflösung noch einige Nachtreffen zum Wundenlecken, Aufarbeiten und Revue passieren lassen. Frauen sind halt keine Kerle. Frauen machen langen Prozess.
Von Schneewittchen habe ich später einmal gehört, dass sie sich mehrere Jahre überhaupt keine Gruppenfähigkeit mehr zutraute, Schwarzwaldliesel war sofort mit einer anderen zusammen, und Miss Piggy hatte alle Beteiligten zeitnah schriftlich wissen lassen, in ihrem Alter und mit ihrer Qualität sei es ohnehin jetzt viel zu schwierig, am Zenit ihrer Laufbahn stehend und schon ihre Memoiren vorbereitend, noch einmal in die Abgründe einer Intervisionsgruppe hinabzusteigen. So war für alle gesorgt, und Fred? Man konnte zwar gelegentlich bei Konzerten oder Geburtstagsfeiern auf ihn treffen, wobei man aber selten über Berufliches redete. So dass ich über sein weiteres Krümelgruppenschicksal wenig weiß und raten muss: Fred hat den Freitagnachmittag jetzt vermutlich für von weiter her angereiste Privatpatienten reserviert.
Ach so, Du möchtest ja vielleicht noch wissen, worum es denn bei dem Zerwürfnis eigentlich ging: es ging um die Mutter aller Fragen.
WER MACHT DIE WAHRE PSYCHOANALYSE ?
Big Bang!
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