In Planung befindliche Visitenkarte, noch etwas unschlüssig |
Als ich ins Wartezimmer ging, um sie in den Therapieraum zu bitten, hätte ich sie beinahe übersehen. Sie war komplett officetauglich in schwarz-weiß gekleidet, klein und zierlich. Als sie mich erblickte, stand sie auf und blickte auf das dicke schwarze Lederarmband ihrer großen in unser beider Auge springenden unisex-Armbanduhr. Ihre Stunde hatte geschlagen.
Dann nahm sie eine riesige schwarze It-bag in die Hand (was It-bags sind, weiß ich von ihr) und ging damit auf hohen schwarzen Pumps vor mir, diskret hinkend, ins Sprechzimmer. Sie hatte innerhalb dieser wenigen Sekunden in meiner Wahrnehmung Konturen gewonnen, die ich aber mehr ihren Accessoires zuschrieb als der etwas scheu darunter überwinternden jungen Frau. Das Weiße an ihr waren ihre frisch gebügelte Bluse und ihr blasser Teint, der ein bisschen Farbe hätte gebrauchen können. Kerstin hatte seit längerer Zeit Probleme beim Gehen, da ihr linkes schwarz-behostes Bein schmerzte. Das sah man sogar, wenn sie, ohne sich zu bewegen, vor einem saß; dieses Bein hielt sie ein bisschen schlaff und an den Rest ihres von Smoothies und Sushis ernährten schmalen Körpers angelehnt, als würde es nicht zu ihr gehören, so wie wenn man eine antike chinesische Vase vorsichtig neben sich abstellt. Sie hatte viele Arztbesuche, Spezialistenuntersuchungen und medizinische Zweitmeinungen hinter sich. Es war dann eine glückliche Fügung, dass zum ersten Mal in ihrer Odyssee durchs orthopädisch-rheumatologische Gehege ein Oberarzt der Städtischen Klinik nach zwei Jahren Beschwerdepersistenz sie auf seelische Probleme angesprochen und eine Psychotherapie angeraten hatte. Kerstin berichtete bereitwillig, als habe sie nur auf diesen psychosomatischen Startschuss gewartet, und ließ dabei erkennen, dass sie intelligent, nachdenklich und nicht nur eine lebende Werbetrommel für Businessmode war: sie arbeite in einer Versicherungsagentur, habe sich dort immer weiter in der Hierarchie nach oben geschuftet und jetzt stehe sie aber an einem Punkt, an dem es nicht mehr weitergehe (da haben wir eine erste, noch schüchtern im Hinterkopf köchelnde Hypothese: das Gehen fällt schwer…). Sie werde seit zwei Jahren unter Erhalt großzügiger Prämienzahlungen dem Bezirkschef an die Seite gestellt, das bedeute, dass sie viele Kundenbesuche abstatten müsse. Entweder absolviere sie diese mit ihrem Chef zusammen, da würde sie sich aber nur wie ein „Anhängselweibchen“ fühlen und habe den Verdacht, dass man durch Anwesenheit einer netten jungen Frau die Kunden leichter weichklopfen wolle. Da fühle sie sich „nicht mehr echt“. Bei den Besuchen, die sie ohne ihren Chef mache, gehe es ihr aber noch schlechter. Sie habe enorme Probleme damit, ihren Kunden Sachen aufzuschwatzen, „das bin nicht mehr ich“, sie müsse ganze Versicherungspakete verkaufen und die Kunden im weiteren Verlauf der sogenannten Fachbetreuung durch update-Angebote überzeugen, noch mehr Geld einzusetzen, „das kann ich kaum noch authentisch rüberbringen“. Am Ende des Erstgesprächs kündigte sie mir an, dass sie die anfallenden Rechnungen für die Therapie selber bezahlen wolle; sie sei beim gleichen Konzern krankenversichert, für den sie arbeite, und es komme nicht gut an, wenn sie dort als Psychowrack bekannt würde. Sie wolle ihre Karriere nicht gefährden. Um die Rechnungen steuerlich absetzbar zu gestalten, solle ich das ganze nicht als Patientenbehandlung, sondern als Managementberatung oder Coaching „laufen lassen“, Mein Einwand, dass das schwer ginge, da ich doch gar keine Managementberater – oder Coaching-Ausbildung hätte und dass ich nichts anderes schreiben könne als das, was tatsächlich geleistet würde, wurde nach kurzem Nachdenken tapfer geschluckt. Das fände sie „okay“, sagte sie, das sei „wenigstens transparent“. Sie brauche sowieso in den kommenden anderthalb Jahren viel Geld, dann komme es auf die Therapiekosten auch nicht mehr an. Ich fragte nach, wofür sie soviel Geld brauche. Sie meinte, sie habe gerade mit Coaching an einem Institut begonnen. Irgendwie überkam mich der Impuls, hier meinen Fuß noch mehr in die Tür zu setzen, und wandte ein, dass es meiner Meinung nach nicht günstig sei, zwei verschiedene psychologische Behandlungen auf einmal zu machen. Sich coachen lassen und Psychotherapie, das gehe nicht so einfach zusammen wie Erdbeerkuchen mit Sahne. Kerstin machte eine Handbewegung wie um zu sagen, um Himmels willen, mon dieu, wo denken sie hin ? Nein, nein, sie wolle sich nicht coachen lassen, sie wolle selber Coach werden.
Zwischen uns stand es somit Null zu Eins.
Im zweiten Gespräch schilderte sie mir ihre exakt durchgedachten Beweggründe für ihre begonnene Ausbildung: sie wolle sich klientelbezogen spezialisieren und auf Versicherungskaufmänner und –kauffrauen zugeschnittene Coachings anbieten. Sie wolle damit sozusagen ihren Berufskollegen dabei helfen, das „eigene Potential abzurufen“ und deren „Kommunikation mit den Kunden zu optimieren“. Ich fragte sie, wie sie sich das vorstelle: anderen etwas beibringen, was sie selbst nicht gut fertig bringe, also möglichst ertragreiches Vermakeln von Versicherungen. Kerstin konterte, dass sie ja ihr eigenes Problem nur deswegen habe, weil sie selbst in den letzten Jahren keinen Coach zur Seite gehabt habe, und genau das wolle sie in Zukunft ihren gebeutelten Kollegen anbieten.
Null zu zwei.
Ich bemerkte, ob es dann nicht logischer wäre, damit anzufangen, sich erstmal coachen zu lassen, aber sie lehnte ab; sie wolle keine Zeit mehr verlieren, denn wenn es gut laufe mit der Ausbildung, dann wolle sie in drei, vier Jahren aus ihrem ungeliebten Hauptberuf aussteigen und als freiberuflicher Coach für Versicherungsleute, vielleicht auch Makler, arbeiten. Das Bänker- und Unternehmensberaterfeld sei bereits abgegrast. Tapfer noch eine Runde lang dagegen haltend, weil Kerstins bockelharte Logik in mir Kampfgeist weckte, wandte ich ein: wie sie das denn vereinbaren könne mit ihren eigenen Werten: anderen bei etwas helfen, aus dem man selbst so schnell wie möglich aussteigen wolle. Auch diese ziemlich mit Moralin angereicherte Intervention ließ Kerstin weder aus ihrem strukturierten Konzept noch aus ihren schwarzen Highheels kippen: sie brauche sich nicht mit Gewissensfragen herumzuschlagen, denn beim Coaching habe die Verantwortung für die einzuschlagende Richtung der zu Coachende und nicht der Coach. Wenn also jemand möglichst viele Versicherungen verkaufen wolle, sei das dessen Entscheidung, der Coach sei nur auf dem Weg dabei und helfe, den vom Klienten gewünschten und freiwillig gewählten Kurs zu halten. Dies untermauerte sie mit Metaphern aus dem Segelsport, nämlich dass ja nicht sie das Boot steuere, sondern der andere.
Null zu drei.
Kerstin kam also zu mir zur Therapie und absolvierte parallel eine umfangreiche Coachingausbildung. So richtig wohl war mir bei der Sache nicht. Ich geriet in die gleiche, viel zu seifige Seelenbadewanne und musste mir auch die Frage stellen, wie ich das vereinbaren konnte: einer Patientin dabei helfen, ihren inneren Skrupeln Gehör zu schenken, damit sie wieder schmerzfrei gehen kann, und zugleich zuzuschauen, wie sie anderen abtrainierte, derlei Skrupeln weiter Bedeutung beizumessen. Puppe-in-der-Puppe-Dynamik: mir außerdem dabei meine eigenen Skrupel nicht zu sehr ins Bewusstsein zu rufen.
„Sois vrai“ wollte sie ihr eigenes Coaching-Institut nennen. Das hieß, "sei echt!", und das fand sie chic und ich muss einräumen, ich auch, und irgendwann begann ich, da so ein bisschen mitzusegeln bei ihrer Ausbildung, aus deren Nähkästchen sie mir in regelmäßigen Abständen berichtete. Das Projekt Coaching, das sie solange durchs Tal ihrer Selbstzweifel geführt hatte wie ein Stück Treibholz einen erschöpften Schwimmer, drohte zu scheitern, als die praktische Phase begann. Sie fand einfach niemanden, der sich coachen lassen wollte. Aber die Ausbildung, die sie gewählt hatte, war seriös und verlangte einige „echte“, supervidierte Coachings „echter“ Klienten. Es ging, egal worüber wir redeten, am Ende immer um diese Echtheit, um das Authentischsein. Kerstins Wortschatz kam ohne diesen Begriff gar nicht mehr aus und ich fühlte mich zuweilen an die Rosenkränze erinnert, die die Frauen in ländlichen Gegenden noch heute benutzen, um meditativ zu beten, und die es tatsächlich vermögen, ihnen innere Ruhe zu schenken. Doch die frustrane Suche nach geeigneten Klienten kam mit der Zeit gegen den Rosenkranz nicht mehr an. Kerstin empfand es nach unzähligen Versuchen, sich zu vermarkten, schließlich als persönliche Niederlage, keine Klienten zu finden. Sie bot ihre Dienste sogar kostenlos an, ohne Erfolg. Sois-vrai!-Flyer und sois-vrai!-Visitenkarten mit einem lange ausgebrüteten Logo lagen im Umkreis herum, sie klapperte Bioläden, Edelfriseure, Klavierschulen und Juweliere ab, sogar Wartezimmer von Psychiatern (heimlich), doch es kam kein einziger Anruf. Sie verfiel nach und nach in eine beängstigende Depression, jetzt sprach sie zwar nicht mehr über ihr längst vergessenes, weil mittlerweile langsam wieder gehtüchtiges Bein, aber dafür vom Sinn oder Nichtsinn, noch weiter auf der Welt zu sein, und malte sich aus, wie es wäre, nicht mehr da zu sein. Wir machten uns Gedanken, warum sie nicht vorankam. Vielleicht gab es ja zuviele Coaches, zuviele Coachings, zuviele Coaching - Institute. Sie und ich ahnten, dass es aber noch einen anderen Grund geben mochte: sie fand möglicherweise deshalb niemanden, der ihr Schutzbefohlener werden sollte, weil irgendetwas an ihr selbst offenbar noch nicht stimmte (um mal das Wort authentisch zu vermeiden).
Sie ließ mich daraufhin teilnehmen an den Problemen ihrer Ausbildungskollegen: anfangs hatte sie mit fast gequälter Bewunderung von ihnen geredet, alle waren ihr klüger, attraktiver, gebildeter und selbstbewusster als sie selbst erschienen; nun fand und beschrieb sie plötzlich bei den selben Personen menschliche und biographische Abgründe. Auch ihre Ausbilder nahm sie ins gnadenlose, perfekt geschminkte Visier. Ich nehme an, sie hat gelegentlich übertrieben mit ihrer Kritik. Aber es tat ihr gut.
Zum Ende der Therapie hatte sie in einer Hilf-dir-selbst-Aktion ein Buch über Schmerzen gelesen und sich „mental davon befreit“. Das Bein funktionierte tadellos. Die Ausbildung hatte sie nach erheblichen Geld-, Zeit- und Nerveninvestitionen erstmal auf Eis gelegt; sie setzte sich mit einigen ihr nicht gerade wohlmeinenden Kollegen in der Agentur auseinander und brach mehrere heftige Grundsatzstreits mit ihrem Mann, der sie in ihrem Beruf unbedingt bei der Stange halten wollte, vom Zaun. Ob Kerstin in der Zeit nach der Therapie doch noch irgendwann Coach wurde, weiß ich nicht. Ich vermute, ja, sie war davon trotz aller mir berichteten Enthüllungsskandale begeistert. Ich glaube, sie würde auch Klienten finden. Sie müsste ihr Angebot nur anders zuschneiden: Coaching für Leute, die aus ihrem Beruf aussteigen wollen. Dafür bräuchte sie nicht mal den geplanten Namen ihres Projektes ändern.
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