Ein aufklärender Beitrag zum nahenden Fest der Liebe und der Familie. Nach einer wahren Begebenheit.
Familiäre Systeme sind ein unterschätztes Meisterwerk der naturverbundenen Psychologie.
Jedes Familienmitglied erhält, zumeist schon kurz nach seiner bis dato noch ahnungslos erlangten Geburt, von der es mehr oder weniger erfreut erwartenden Restgemeinschaft seine spezifische Rolle zugewiesen und verhilft diesem sogenannten lifescript, wenn es nicht gar zu schwierig konzipiert ist, im Laufe seines weiteren Lebens zuverlässig zum Gedeihen. Vom Standpunkt der Ein-Generationen-Perspektive aus finden sich bei Geschwistern in der Regel klassische lifescript-Typologien, allerdings ungerecht verteilt; so dient ein Geschwister der durchaus gefahrenträchtigen, dafür lustvoll besetzten Rolle des Aufmüpfigwerdens, dieses Kind wird in Fachkreisen gerne als PNK-Modul (Protestnachkömmling) bezeichnet und beinhaltet vor allem kompensatorische Ichfunktionen, die beispielsweise mit der lieben Mutter, reizenden Oma oder im System mitlebenden naiven unverheirateten Tante energetisch kollidieren und deren Defizite ausgleichen helfen; ein weiteres, statistisch überdurchschnittlich häufig männliches, Geschwister übernimmt hingegen oft schon in jungen Jahren die weniger dankbare Aufgabe des Symptomträgers, auch Indexpatient genannt, indem es die Neurosen der übrigen Systemmitglieder stellvertretend auf sich nimmt und für alle anderen den Kopf hinhält, wenn es um die zumeist unfreiwillige Nutzung externer, vorzugsweise psychiatrisch-psychologischer, Hilfen für das System geht. Im Rahmen eines wie geölt ablaufenden Teamworks können so auch schwierige zukünftige Fragen, wie etwa der Differentialdiagnostik des Tierreichs, ohne Anstrengung erörtert und abschließend in ihrer Relevanz für das Weltgeschehen eingeordnet werden. Zwecks letzterem bedarf es aus Sicht der Mehr-Generationen-Perspektive außerdem noch des sogenannten Leithammels, eines zumeist älteren, ansonsten stillen Vertreters des Familienverbundes, auch Familieneule oder Gruppenanalytiker genannt, dessen Stärke im emotionslosen Beobachten liegt und der gerade deshalb im entscheidenden Moment der Orientierungslosigkeit des Restsystems über die Kraft und Übersicht verfügt, das sensible menschliche Gewebe mittels einer klaren Interpretation wieder zusammenzuführen und zu beruhigen, wodurch die passager zur Labilisierung neigende Funktionstüchtigkeit des Systems wiederhergestellt wird.
Jenseits dieser zweifellos im DARWIN´schen Sinne überlebensnotwendigen Mechanismen familiärer Systeme dienen selbige außerdem dazu, dass es in dieser Welt selbst bei starkem Schneefall und unpersönlicher Anonymität der Situation nicht so bedrückend still ist.
Ein eigenes Erlebnis mag hier zur Illustration des andernfalls etwas zu trocken zu geraten drohenden Stoffes dienen:
Es ist der 24. Dezember, spätnachmittags gegen 17 Uhr. Wegen heftiger Schneefälle hat Familieneule Kurt beschlossen, das Auto, einen noch nicht ganz abbezahlten Jahreswagen von Mercedes in bundesstrassengraphitmetallic, in der Garage zu lassen und deshalb sitzen er, seine Frau Gisela, die ältere Tochter Chantal und der siebenjährige Index-Kevin im noch im Bahnhof bereit stehenden Zug, der sie zur Bescherung zu Kurts Schwiegermutter Elvira bringen wird. Kurt schaut schweigend geradeaus und denkt über seine Mutter und ihre ewig zu zäh geratenden Putenschenkel nach. Chantal, das oben breit dargelegte Systemmodul, wirkt stumm angenervt, weil sie sich lieber über Knöpfe im Ohr The Les Clöchards: Dirty but nice angehört hätte, aber sie hat seit heute früh Handyverbot, weil sie die letzte Packung Haartönung ihrer Mutter ungefragt aufgebraucht hat. Kevin wackelt synchron mit den Knien, ein wenngleich kümmerlicher Rest seiner ansonsten mit Ritalin gemeinschaftsverträglich abgefederten Vitalitätszeichen. Es ist sehr ruhig im Zug, nicht viel los. Ein paar verlorene Seelen sitzen, einzeln, verstreut im Waggon, keiner redet, man hört nicht mal irgendwelches Zeitungumblättern oder das Rascheln von wegen akuter Überheizung sich aus Anoraks schälenden Teenagern. Minuten verrinnen. Gisela schaut aus dem Zugfenster, weil sie Chantals Schmollmimik nicht sehen will. Plötzlich, aus der Stille heraus, sagt
Gisela: Da bewegt sich was!
Kurt (gelangweilt): Da bewegt sich gar nix!
Gisela: Ah doch, da, guck´ doch mal, da bewegt sich´s !
Kurt (gelangweilt): Wir stehen!
Gisela (eifrig, nimmt Fahrt auf): Ach nein, nicht der Zug. Ich mein´ da draußen, siehst du´s nicht? Da, in dem Kasten, da bewegt sich was. Das is´ n Tier. Vielleicht ein Hamster.
Kevin (plötzlich ebenfalls interessiert, hört auf zu wackeln): Oder ein Meerschweinchen!
Chantal (beschwichtigend, hängt die große Schwester raus): Dafür ist der Kasten viel zu groß!
Kevin (immer noch sehr interessiert, aber nicht an der Meinung von Chantal): Oder eine Katze?
Chantal (seufzt besserwisserisch und etwas blasiert): Wenn das eine Katze wär´, dann würde sie sich nicht so schnell bewegen! Die würde schlafen!
Giesela (träumerisch, auf der Suche nach ein bisschen Romantik): Also, das ist entweder ein Hamster oder ein Meerschweinchen. Bestimmt für ein Kind. Zu Weihnachten.
Kurt (setzt nach kurzer Pause energisch den fälligen Schlussakkord): Also, das ist mir jetzt egal, ob das ein Hamster oder ein Meerschweinchen ist!
Der Zug setzt sich in Bewegung und die Vier fahren einmütig zur Bescherung. Die sich entwickelnde Stille hat nichts Beklemmendes, sondern spiegelt Entspannung wieder, schließlich ist alles von allen gesagt und die Welt da draußen zwecks Erhalt der Systemstabilität ausreichend vorsortiert.
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