f Psychogeplauder: Alpenworkshop

Freitag, 6. Januar 2017

Alpenworkshop






Wenn Du als Therapeut deine Ferien irgendwo in der Fremde verbringst, bist Du gefährdet, anderen Menschen erklären zu müssen, was Du während derjenigen Zeiten eigentlich treibst, in denen Du gerade nicht Ferien hast. Man kennt ja diese kommunikativen basics aus den Sprachkursen:
um eine zufällige Bekanntschaft zu schließen, bedarf es eines ewig wiederkehrenden Fragenduetts zur Schaffung von sozialpsychologischem Überblick, Di dove viene? - Where do you come from? und Lei, che professione ha? - What´s your profession? Es gibt Berufe, da antwortet man geradezu inbrünstig und gerne; dazu gehören Atomphysiker und Astronauten, Galeristen und Werbetexter oder auch wedding planner. Dagegen ist es mir stets ein wenig unwohl, wenn ich sagen soll, ich sei Psychotherapeutin. Erstens kommt dann die mitleidige Frage, ob man denn nicht vieles abends mit nach hause nimmt; und zweitens, das wird allerdings nicht verbalisiert, steigen über dem Haupt des Fragenden, der gerade im Strandkorb neben Dir liegt, mit Dir eine alte Kirche besichtigt oder zur Verbesserung der Clubatmosphäre an Deinen Abendbrottisch gesetzt wurde, erste Rauchwölkchen auf; denn er fragt sich reflexartig, woran er schon längst hätte erkennen können, dass der Therapeut, wie alle Therapeuten, selber nicht ganz richtig tickt! Am prekärsten wird es aber dann, wenn Du in Deiner Eigenschaft als Therapeut gleich mal im Vorbeigehen beschäftigt wirst. Sagen Sie, was ich schon immer mal fragen wollte ... und dann wird es ungemütlich und meistens sehr, sehr eng. Leider ist es dem ratsuchenden Mittouristen gar nicht so bewusst, dass er ein Urlaubsverderber ist, denn er stellt sich vor, dass Therapeuten immer und überall lustvoll ihre Mitmenschen mit einer genialischen Mischung aus Gnadenlosigkeit und Dauerhilfsbereitschaft durchschauen. Und dass sie gar nicht anders können, als sich psychologische Gedanken zu machen und Urteile zu fällen. In den letzten Jahren habe ich mir, zur Aufrechterhaltung entspannter, aber unverbindlicher zwischenmenschlicher Beziehungen an Urlaubsorten, daher angewöhnt, Ersatzberufe zu erfinden. Meine Top-3 sind Restauranttesterin, Schriftstellerin mit Pseudonym und Geschäftsstellenleiterin der Zeugen Jehovas (bei letzterem werden die Leute doch meist etwas zurückhaltender und du hast deine wohlverdiente Ruhe).

In welch´ abenteuerliche Verwicklungen man aber auch als erfahrener Psychotherapeutenurlauber geraten kann, erlebte ich einst bei einer winterlichen Woche in einem etwas abgelegenen gemütlichen Alpenhotel. Da es draußen stürmte, hatte ich es mir nach einer ereignisreichen Schneewanderung gerade bei einem Jagertee, offen gesagt, beim zweiten Jagertee, im Gastraum gemütlich gemacht. Es ist nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, dass mich diese blutphysiologische Sondersituation dazu verführte, mit einer jungen, hübschen und bestgelaunten Angestellten, die mir gerade die aktuellen Kuchensorten aufzählte, ins gelockerte Gespräch zu kommen. Irgendwie... muss es mir dabei rausgerutscht sein: dass mir nichts Menschliches fremd sei, schließlich sei ich Therapeutin. Ich hatte natürlich nicht so viel im Tee, dass ich nicht sofort reuig ahnte, dass dies ein Fehler gewesen sein könnte, doch atmete ich erst einmal erleichtert auf, dass keine anderen Gäste etwas mitgehört hatten und dass die Kuchenaufzählerin zur nachmittäglichen Kaffeezeit viel zu tun hatte, so dass mein kommunikativer Harakiri zunächst ungestraft zu bleiben schien. (Ich bestellte, statistische Harmlosigkeit mimend, Apfelstrudel mit Sahne). 
Am Tage darauf saß ich in einer Ecke des Hotelsalons beim Lesen; der große geschmückte Weihnachtsbaum verdeckte etwas die Sicht in den Rest des großen Raumes, so dass ich mich, wie du, lieber Leser, bereits intuitiv erfasst haben wirst, vor Fragen sicher, geborgen und unerkannt fühlte. Amüsiert hörte ich von weiter weg ein zwischen Zank und freundschaftlichem Frotzeln angesiedeltes Dauergeplänkel zweier weiblicher Hotelmitarbeiterinnen, die gerade die zahlreichen abgebrannten Teelichter im Hause durch neue ersetzten. Als sie kichernd um die Ecke kamen und mich sahen, verstummten sie sofort; eine junge, stimmungsmässig allen Therapiepraxen dieser Welt abhold wirkende heitere Frau und ihre etwa doppelt so alte, bebrillte mütterliche Begleiterin, etwas beschämt, dabei hatte ich gar nicht darauf geachtet, worum es in ihrem ahnungslosen Plausch eigentlich gegangen war; sie entschuldigten sich für ihre ausgelassene Quasselfreude und die Kuchenaufzählerin und ich erkannten einander bei dieser Gelegenheit sofort wieder.
Am Abend, ich hatte mich gerade an den Esstisch gesetzt, ereignete sich dann der showdown: die bebrillte und bedirndelte Ältere der beiden Diskutantinnen stellte selbstgebackenes Brot als Entrée auf den Tisch und raunte mir diskret ins Ohr: "Darf ich Sie mal was fragen? - Nachher, selbstverständlich, erst, wenn Sie gegessen haben, und nur kurz!" Ich ahnte, dass was im Busch war, wusste aber, dass ich da jetzt freundlich durch musste. Hatte ich mir meine eiserne Inkognito-Regel ja schließlich selbst versaut (Jagertee). Ich versuchte, das Verspeisen der einzelnen Gänge unauffällig etwas in die Länge zu ziehen, aber die Jägerin umkreiste schon ihre Beute und anhand auffälliger Augenaufschläge der Jüngeren, die ebenfalls um die Logistik meines Tischs bemüht war, schwante mir bereits, dass es sogar zwei Fragenstellerinnen waren. Aus Verzweiflung und um mich für die erwartbare Psychofrage mental zu stärken, bestellte ich noch einen Espresso. Er kam. Und mit ihm gleich beide Spontanklientinnen. Die Ältere ergriff das Wort und sagte, sie beide hätten da mal eine Frage an mich: "Stimmt es, dass sich die Männer heutzutage nicht mehr binden?" Aha. Das Thema war somit fokussiert. Blitzschnell tippte ich im Großhirn auf den Button "SUCHEN" und kramte eine passende, von jahrzehntelangem psychologischem Weitblick zeugende und dennoch kurz und knackig wirkende Antwort heraus. Das Ganze war ja nicht nur eine knifflige, persönlich unerwartete Situation, die es elegant hinter mich zu bringen galt; es war auch eine potentielle Schlüsselerfahrung für dieses von Therapiepraxen abgekoppelte Hotel, ja vielleicht sogar der gesamten Alpenregion, und ich fühlte mich feierlich verpflichtet, hier allen Therapeuten des Landes zu Ehren eine repräsentative und ehrenvolle Antwort in einer offensichtlichen Erstsituation zu geben. Ich setzte an und versuchte, etwas Dramaturgisches in meine Stimmführung zu legen, als ich verkündete: "Ja, das stimmt! Die jungen Männer heutzutage wollen keine Verantwortung mehr übernehmen!" Die Ältere jauchzte und konnte ihre Genugtuung kaum verbergen. Volltreffer. Ich erfuhr jetzt von der Jüngeren, dass sie sich mit der Älteren in einem Dauerdiskurs darüber befinde, warum es für sie so schwer sei, einen passenden Partner zu finden, der sich nicht nach kurzem Intermezzo wieder aus dem Staub mache. "Jedes Mal das Selbe!" sagte sie mit unterdrücktem Groll, und die Ältere, durch meine Anfangsäusserung von Null auf Hundert, legte nach, dabei meine fachliche Beipflichtung besserwisserisch vorwegnehmend: "Man sollte sich eben nicht so schnell einlassen", was eindeutig erotisch gemeint war, aber so genau ließ sich das im Speiseraum zwischen Entenbrust und Putenschenkeln nun wirklich nicht ausformulieren. Ich konnte die attraktive, sympathische Jüngere beruhigen, das Phänomen läge nicht an ihr; mein Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen, prophetisches Hochgefühl begann zu wachsen, da meine erste Intervention schon ganz offensichtlich ein Gemütsöffner gewesen war, und ich fügte hinzu, mutiger geworden: Es sei doch offensichtlich, dass die jungen Männer heutzutage sich überfordert fühlten, ja geradezu Angst hätten vor Beziehungen. Die Ältere schnalzte genießerisch mit der Zunge. Da hob ich vollends ab und erklärte, man müsse sich ja nur einmal die heutige Mode anschauen, um zu verstehen, was da ablaufe zwischen den Geschlechtern. Die Mädchen trügen immer weniger am Leibe und machten mittels Spaghettiträgerchen, dreidimensional aufgepimpter Dekolletés und ultrakurzer Röckchen nicht nur ihren Lehrern und Ausbildern, sondern auch ihren oft noch aknebefallenen und Asterix lesenden männlichen Altersgenossen Avancen, doch die Jungs, das sehe man ja in der Stadt in jeder Straßenbahn nach Schulschluss, die seien überfordert davon, die trügen solche Hosen, deren Schritt bis ins Knie hänge, so dass alles verhüllt sei, als müssten sie sich vor dem erotischen Dauerwerben schützen. Nun jodelte die Ältere fast vor Begeisterung: "Genau. Die machen dicht!" Mit einvernehmlicher Conclusio, dass Männer unreifer seien als gleichaltrige Frauen, und dass der altmodische Grundsatz weiter Bestand habe, eine Frau solle sich nicht allzu leicht erobern lassen, beendeten wir die wissenschaftliche Veranstaltung.

Ein bisschen unwohl war mir hinterher ja doch. Ich hatte da, wie peinlich, arg pauschal und gar nicht einzelfallbezogen geurteilt, und so richtig wissenschaftlich abgesichert erschienen mir meine entschieden vorgetragenen Einlassungen auch nicht gerade. Zudem wurde alle Schuld an der geklagten Problematik auf die anderen, in diesem Falle auf mir unbekannte junge Männer, gewälzt, ein methodischer Basiserror. Aber dann dachte ich, ach, wer weiß, wann hier mal wieder ein Therapeut in diesem Alpenhotel zur selben Thematik Stellung nehmen muss und meine Theorien dann möglicherweise falsifizieren wird ... bis dahin konnte ich mich erst einmal rühmen, ein bisschen Grund in eine psychotherapeutisch unterversorgte Gebirgsregion gebracht zu haben. Außerdem hatte ich vermutlich dazu beigetragen, die Gefahren allzu regelmäßigen Alkoholgenusses im Personalbereich des Hotels zu senken; man kennt das ja. Siehe Jagertee. Den trinkt man nicht ausschließlich zur Temperaturregulation, er dient auch der Bewältigung von Bindungsdefiziten junger Kerle.





Klassische  Grundausstattung  der
psychologischen  Hausapotheke
 im Hochgebirge




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