Heute vormittag hatte ich wieder mal einen Therapieabschluss. Gegenüber Therapieabschlüssen bin ich ambivalent. Einerseits ist es ja auch mal ganz entlastend, wenn ein Ende erreicht ist und gut is´.
Man hat einiges zusammen durchgekaut, manchmal sogar auch einiges erreicht, und irgendwie kommt dann, für den Patienten und auch für seinen Therapeuten, früher oder später der Punkt, an dem die Sache ranzig zu werden droht. Ich vermute, das ist so ein ähnliches Gefühl, wie wenn ein Kind, das eigentlich kein Kind mehr ist, und eh´ bloß zum Übernachten und Wäschewaschen hereinschneit, dann doch mal die Sachen packt und auszieht. Auf der anderen Seite können Abschlüsse auch Abschiedsgefühle bescheren, also es gibt sie schon, die leicht anrührenden Momente, wenn beide wissen, heute ist´s das letzte Mal. Die Mutter winkt noch, mit dem Taschentuch. Na ja, ist heute out, wahrscheinlich winkt sie mit dem Handy, mit stummem optischem Hinweis, ruf´ doch mal an und lass´ von Dir hören! Sowas kannst du als Therapeut ja nicht bringen, aber ich sage im Abschlussgespräch manchmal, wenn sie wollen, und nur dann, schreiben sie mir doch mal eines Tages, wie ihr Leben weiterging und ob sich ihre Beschwerden nochmal zurückgemeldet haben oder nicht. Was ich heute erlebt habe, brachte mir aber mal wieder einen anderen Aspekt in Erinnerung, weswegen ich Therapieabschlüssen eher skeptisch und, sagen wir, nicht unbedingt tiefenentspannt entgegensehe: es ist das MUSAPH - Zeichen (das sog. Phänomen unter der Tür).
Der Herr war eigentlich Gynäkologe, also ganz eigentlich sogar Sexologe, aber, wie alle Gynäkologen, bezüglich psychischer Phänomene infolge der berufsbedingt jahrelangen Peinigung durch seine Patientinnen aufgeschlossen und wissbegierig. Musaph fand jedenfalls raus, dass sich Patienten oft „unter der Tür“, quasi im letzten Moment des Kontakts kurz vor dem Abschied, noch einmal, ohne es zu wollen, outen. Und da etwas raus lassen, was sie bisher gut unterdrückt hatten; so lassen sich plötzlich, in einem ganz kurzen Moment wesentliche diagnostische Luftsprünge machen – vorausgesetzt man schaut und hört hin. Dabei zieht der Patient, eben noch voller stabiler Abwehrmechanismen, ein letztes violett-pink-gestreiftes nie vorher gesehenes Kaninchen aus dem Hut. Es lassen sich zum Beispiel krasse Zeichen von Verrücktheit ausmachen bei ansonsten scheinbar normalen Patienten; oder sie lassen noch etwas durchblicken, was sie im gesamten voran-gegangenen Gespräch geschickt umgangen hatten wie die berühmte kluge Katze den heißen Brei.
Das Ende mit Andrea barg doch einen gewissen Zündstoff, das muss ich sagen. Sie hatte sich während einer etwa ein dreiviertel Jahr dauernden Therapie nur bedingt in die Karten gucken lassen, und, wie viele Lehrerinnen (sorry), hatte sie sich manchmal gar nicht angefühlt wie eine Patientin, da sie irgendwie immer so aktiv, den Prozess strukturierend und patent gewesen war. So hatte ich gelegentlich Schwierigkeiten gehabt, ihr nahe zu kommen, und sie hatte im letzten Viertel der Therapie, leicht unzufrieden mit dem Therapieergebnis, beschlossen, noch was „Konkretes, was ich umsetzen kann“ an die Behandlung bei mir später dranzuhängen (aha! unsere gemeinsame Arbeit war also nicht konkret und auch nicht umsetzbar! Oder lag das etwa daran, dass sie sich bei den Themen, die hot waren, immer wieder bedeckt zurückzog?). Jedenfalls war ich ein bisschen gerührt, um nicht zu sagen, schlechtgewissig betreten, als sie mir doch tatsächlich, noch im Flur stehend, bei ihrer Ankunft zum Abschlussgespräch einen Blumenstrauss in die Hand drückte. Es war ein hübscher, schlichter, aber entwaffnend fröhlicher Strauß mit Bauernblumen, und sie hatte offenbar auf dem dienstäglichen Markt gleich zwei gleiche Sträuße gekauft (einer war für sie selbst – ich stellte ihn, als Service des Hauses zum Abschied, für die Zeit unserer letzten Sitzung ins Wasser). Den Strauß überreichte sie mir aber nicht sofort, sondern sie blieb vor mir stehen, streckte ihn mir, so ein bisschen wie die Wurst dem Hund, auf Augenhöhe gespielt feierlich entgegen und sagte einen Satz, den sie sich ganz offenbar gut vorher überlegt hatte: „Sie waren eine gute Psychotante!“ In dem Augenblick empfand ich dieses, zugegebenermaßen unerwartete Kompliment, noch dazu mit einem Geschenk verbunden, erfreulich; die Tendenz zu naiver Dankbarkeit, man könnte auch sagen, Bereitschaft, sich über Brotkrümelchen zu freuen und in ihnen das Positive zu sehen, muss wohl in meinem Persönlichkeitshoroskop begründet sein. Wir begannen mit dem Abschlussgespräch, resumierten, konstatierten und addierten wie diese alten Registrierkassen und dann war es an der Zeit, Lebewohl zu sagen. Die ganze Sitzung über hatte sich in meinem therapeutischen Hinterkopf eine gewisse Kampfeslust geregt … erst leise, dann deutlicher. Das mit der Psychotante hatte gesessen und, obwohl man ja am Ende keine neuen Fässer aufmachen sollte, tat ich es schließlich doch noch; vermutlich hatte ich an dem Tag gerade Mars im Wirbelsturm oder so irgendwas anderes kosmologisch Gefährliches. Ich war, mit anderen Worten, auf Krawall gebürstet. Und sagte, mich betont ruhig zurücklehnend: Ich habe zum Schluss nochmal eine Frage. Das wirkte schon mal, denn es brachte die coole Erdkunde- und Physik-Göttin ins Staunen. "Ja?" - "Welche?" Als sie mir vorhin den Blumenstrauß gaben, da nannten sie mich Psychotante. Andrea, die Tapfere, schien nicht zu erahnen, worauf ich eigentlich hinauswollte. Aber ich war schon in Fahrt gekommen und nicht mehr zu stoppen. Ich frage mich, weshalb sie gerade diese Bezeichnung gewählt haben. Es gibt ja soviele: Psychologin, Therapeutin, Psychotherapeutin, Tiefenpsychologin, Gesprächstherapeutin … aber sie haben sich für PSYCHOTANTE entschieden und ich hatte den Eindruck, das hatten sie sich für heute schon vorher genau überlegt. „Ja …“ schlingerte Andrea, wusste nicht, ob sie vor- oder zurückrudern sollte. Warum nannten sie mich so? Es ist ja doch … ein klein wenig despektierlich, oder? Andrea gewann Festigkeit, aha, sie hatte jetzt die gesamte Anklage schriftlich auf dem Tisch und sagte als erstes, Mitleid und Betroffenheit signalisierend: „Ach, habe ich sie etwa gekränkt? Das tut mir aber leid! Ich wollte sie (armes Hascherl, das hat sie nicht gesagt, aber bestimmt gedacht) doch nicht kränken! Wissen sie, man sagt doch auch Klapse oder Klapsmühle … oder dass alle Psychoklempner selber was … das sagt man ja, wenn man sich irgendwie distanzieren will, weil man …“ Ja? Weil man? „Weil man sich das nicht so eingestehen will, dass man Hilfe von außen braucht. Oder das denkt. Aber ich wollte sie doch nicht kränken! Sind sie jetzt gekränkt?“ Nun hatte ich die Wahl: Andrea der Tapferen die Freude zu machen, mein kränkbares neurotisches Seelchen zu fokussieren - oder weiter meine Angriffswelle zu fahren. Ich machte ihr die Freude nicht. Aber nein! Persönlich nehme ich das gewiss nicht! Doch wurde mir gerade klar, warum ich oft das Gefühl hatte, dass sie sich nur mit einem Bein hier einlassen, okay, vielleicht auch noch mit einem zweiten Fuß – aber sie hatten irgendein Problem damit, hierherzukommen, obwohl sie immer pünktlich waren und aktiv mitarbeiteten. „Ja, das stimmt“, sagte Andrea, und man konnte den MUSAPH förmlich atmen hören. „Wissen sie, ich habe es außer meinem Mann ein Jahr lang niemandem gesagt. Und selbst für ihn mache ich hier offiziell Lehrercoaching.“
Da sage noch einer, Therapieabschlüsse seien langweilige, ritualisierte Abschiedsplaudereien. Nein, es können die Höhepunkte der Erkenntnis sein. Und noch was, geschätzter Leser: NEIN, ICH BIN NICHT GEKRÄNKT, ICH BIN NICHT GEKRÄNKT, ICH BIN NICHT GEKRÄNKT.
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