In quietness and in confidence shall be your strength (Jesaja 30,15) |
Sie war erst 19 und als sie zum ersten Mal in meine Praxis kam, durfte es niemand wissen. Das war ihr das wichtigste.
Nicht ihre Beschwerden standen im Mittelpunkt ihrer Worte, sondern dass sie auf keinen Fall wolle, dass ihre Eltern davon erführen. Dass „ES“ sie hierher geführt hatte.
Sie esse zu wenig, das wisse sie, Sie wiege zu wenig, das wisse sie auch. Sie habe eine Schulfreundin, die wiege viel weniger. Der gehe es schlechter, nach der drehten sich die Leute um. Sie selbst erschien mir zu dünn, aber „ES“ wirkte nicht ganz so schlimm, als dass man sie hätte ins Krankenhaus bringen müssen. Nein, sie konnte sich durchschlagen. Machte mit, berichtete, antwortete auf meine Fragen, willigte ein, eine psychotherapeutische Behandlung zu machen, damit „ES“ besser würde. Zwischendurch gab es Wartezeiten: auf das Ende meines Urlaubs, auf die Bescheinigung des Hausarztes über die Wiegetermine; auf die Genehmigung der Krankenkasse, auf das Ende ihres Familienurlaubs; den hatte sie sie einerseits widerwillig mit Eltern und dem älteren Bruder verbracht, andererseits begierig-ungeduldig dann doch ersehnt, hoffend, dass ein paar Krümelchen vom Brot der Liebe auf sie abfielen. Der große Bruder war seit Jahren schwer und unheilbar krank, die Mutter war seit Jahren ganz und gar darin gefangen; und der Vater sagte seit Jahren nicht viel. Er photographierte lieber.
Nach einigen Wochen gestand sie dann doch den Eltern, dass sie zur Psychotherapie gehe; die Mutter war gar nicht einverstanden. Es ging ihr schlechter, sie nahm ein Kilo ab. Die Mutter ließ fragen, ob nicht eine andere Therapie besser wäre. Die Tochter brauche keine Einzelgespräche. Es gehe um die Familie. Ob andere Therapeuten nicht geeigneter wären. Es ging ihr noch schlechter und wir wussten manchmal nicht, was wir reden sollten. Als würde das Vertrauenspflänzchen zwischen uns verdorren, Ärger und Unsicherheit schoben sich zwischen unser zartes Beziehungsband, auf ihrer und auf meiner Seite.
Dann kam eine knappe SMS. Sie wolle doch lieber woanders hingehen. Sie könne sich mir nicht öffnen. Es falle ihr schwer, mir das zu schreiben.
Nun sitze ich da und habe tausend Fragen. Pass´auf dich auf, Kind!
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