f Psychogeplauder: Virginia twittert

Montag, 2. April 2018

Virginia twittert


Repräsentativer  Teil  einer
breit  angelegten  Flugblattkampagne


Diese traurige Geschichte ist schon über zwei Jahrzehnte her. Ihre Protagonistin lebt noch. Ich sehe sie alle paar Jahre mal zufällig, fast immer in der gleichen Gegend, wenn ich einkaufen gehe. Irgendwie bewundere und bedauere ich sie zugleich,
in so einer zart zugeneigten Gefühlsmischung, die nicht verblasst mit den Jahren. Sie ging mir nie aus dem Sinn. Ich glaube, sie weiß das tief innen drin, denn sie streckt mir immer freundlich die Hand zu Gruß entgegen. Sie war damals, als sie sich zu mir in Behandlung begab, durchgeknallt gewesen und hatte nie mehr aus diesem Status zurückgefunden (man merkt dieser früh-berenteten, stets fein und zurückhaltend gekleideten Frau an, dass sie ziemlich krank ist; vielleicht war es aber früher, als alles anfing, ein glückliches Aus-der-Reihe-Tanzen gewesen von der Sorte, die die Nachbarn neidisch macht).
In ihrer Stadt kannte man bestens ihren Nachnamen und ihre Herkunftsfamilie. Dieser Name gehörte zu denjenigen alteingesessenen Geschäftsleuten, die noch Stil und Anstand hatten und wohin man sich wandte, wenn man einen „soliden“ und zeitlosen Einkauf tätigen wollte. Es ist kaum zu glauben angesichts Einzelhandelssterben und Innenstadtleere, aber das Geschäft gibt´s immer noch. Wahrscheinlich liegt seine transgenerationelle Unsterblichkeit daran, dass man dort nie was Geschmackloses finden kann, auch wenn man selbst kein Kleiderexperte ist. Schon die Auslagen künden von einer eigentlich ein klein wenig altmodischen, aber doch irgendwie für das Stilempfinden der meisten Menschen wohltuenden Bekleidung von der Sorte, die in anderen Gegenden langsam der Ware in Outlets, Filialshops und Megastores weichen muss; dort konnte man nicht einfach eisleckend reingehen und erst einmal mit kampfgeweiteten Shoppingpupillen rumlaufen und diesen oder jenen Stofffetzen von einer überfüllten Kleiderstange zerren; sondern man wurde schon kurz nach Betreten des Ladens von einer Fachverkäuferin artig gefragt, was man wünsche, und dann zielgerichtet beraten. Und es gab auch keine für den Geschmack des mitgeschleppten Partners oder Kindes aufgestellten Wühltische oder sonstige ästhetikverhunzenden Sonderangebote to go. Ich war schon lange nicht mehr dort, weil ich mich in den letzten Jahren so alt gefühlt hatte, wenn ich rausging. Ich sollte mich mal wieder hin trauen, denn mittlerweile habe ich festgestellt, dass das Meiden des Ladens gegen das Älterwerden rückblickend kaum etwas genutzt hat.

Gerne würde ich sie, die Durchgeknallte, Virginia nennen, obwohl sie sich nicht, wie Virginia Woolf, umgebracht hat, nur in seelischer Hinsicht vielleicht doch. Sie teilte in einigen weiteren Belangen deren Schicksal; sie litt unter ihren älteren Geschwistern, liebte die Schriftstellerei und außerdem war sie andersherum. 

Virginia war im Anschluss an eine längere stationäre Behandlung in einer Nervenklinik zu mir gekommen. Es war ihr recht gewesen, zu meiner damals etwas außerhalb gelegenen Praxis zu kommen, da fühlte sie sich anonymer. Besonders ihre Mutter war ja stadtbekannt, eine Art deutsche Ausgabe der englischen Queen-Mum, immer elegant, auf Schuhen, deren Absatz einen Tick zu hoch schien für eine weit über 80 Jährige, aber sie ließ es sich damals nicht nehmen, damit jeden Vormittag zur gleichen Zeit erhobenen Hauptes den Laden zu besuchen, den sie mit ihrem längst verblichenen Mann aus einer ehemaligen Schneiderei ihrer Großeltern aufgebaut hatte. Dort ließ sie sich von demjenigen ihrer beiden Söhne, der im hinteren Raum für die Buchhaltung zuständig war (Virginia hatte dazu einmal spöttisch gesagt: "sie hat ihn dafür abgerichtet") einen Kaffee bringen. Die beiden im Laden tätigen Schwiegertöchter sagten dann immer wieder, „diese Schuhe brechen ihr nochmal das Genick!“, aber es war unklar, ob das ein Angstausruf oder eine wütende Verwünschung war. Denn Virginias Mutter gehörte zu den älteren Damen, die allein durch ihre Präsenz noch immer das Regiment führten und da sie eine festgefügte Wertewelt und eine nie zu erlahmen scheinende Disziplin an den Tag legte, gereichte sie den erst 50 oder 60 jährigen Dingern, die ihre Schwiegertöchter sein wollten, nicht zur Freude. Virginia verband mit ihrer Mutter eine Art Hassliebe; einerseits bewunderte sie sie aus tiefem Herzen, andererseits hatte sie vor ihr Angst. Virginia fühlte sich für ihre früh zur Witwe gewordene Mutter ebenfalls abgerichtetWenn jemals herausgekommen wäre, welche Partner-beziehungen sie führte, wäre Queen-Mom entsetzt gewesen, und daher wartete auch Virginia, wie ihre Schwägerinnen, auf das baldige Ableben der Mutter, um freier leben zu können, aber ihre Mutter tat es einfach nicht. So gingen wertvolle Jahre ins Land.
Virginia hatte vor dem lesbischen Teil ihres nicht sehr abwechslungsreichen, aber tief empfundenen Liebeslebens einen hetero-sexuellen Teil, der allerdings auch nicht gesellschafts-fähiger war, denn als junge Frau liebte sie einen verheirateten älteren Mann, und das über viele Jahre. Von ihr habe ich den Ausdruck jour fixe zum ersten Mal gehört und kann mich immer noch an das Leuchten in ihren Augen erinnern, als sie mir davon berichtete; Virginia war jeden Mittwoch zum jour fixe in eine etwa 60 Kilometer entfernte Stadt gefahren, um dort den Nachmittag und frühen Abend mit ihrer Liebe zu verbringen, kehrte dann glücklich zurück und freute sich auf die nächste Woche. Keine Kräche, keine heulenden Aussprachen, kein zerschlagenes Geschirr. Nachdem diese geheim gehaltene Beziehung, malheureusement, hatte beiderseits tränenreich enden müssen, war sie zwei Jahre allein gewesen und hatte sich dann, zu ihrem eigenen Erstaunen, in eine alleinstehende Japanerin, die als Architektin arbeitete, verliebt. Andere Himmelsrichtung, anderer Wochentag, ansonsten das Gleiche: jour fixe. Diese zweite große Liebe wurde ihr zum moralinsauren Verhängnis, sie schaffte es einfach nicht, dazu zu stehen, die Freundin litt darunter und drängte, die Mutter kontrollierte, und irgendwann war Virginia immer unruhiger,geworden, hatte nachts nicht mehr schlafen können und sich in ihrer zunehmenden Verzweiflung an einen Beruhigungsspezialisten in Form eines vermutlich etwas windigen Meditationslehrers gewandt. Da fuhr sie hin, wieder und wieder, es hatte im Grunde auch so Anklänge an einen jour fixe, und es war ähnlich tragisch zu Ende gegangen, denn Virginia tickte irgendwann, nach ein paar Monaten, am Ende einer Meditationsstunde aus; sie fuhr danach durch die Gegend, stundenlang, sinn- und ziellos (offenbar wollte sie nicht nachhause). Schließlich war sie von der Polizei aufgegriffen worden, nachdem der Tank leer und ihr Wagen stehengeblieben war. Sie hatte sich krankschreiben lassen müssen, was ihr peinlich war, sie war Lehrerin und hatte in ihrem disziplinierten Oberstudienrätinnenleben bisher nie Ausfälle der eigenen hardware produziert. Danach stolperte sie wochenlang in einem von der Familie tabuisierten Ausnahmezustand durch ihre Wohnung. Manche ihrer besorgten Besucher empfing sie nackt, gab ihnen schon an der Wohnungstüre Zettel in die Hand. Auch die Mutter, die sich schließlich mit rollenden Augen aufmachte, mon dieu, das Stockwerk über ihr zu betreten und ihre Tochter zu besuchen, erhielt Zettel. Der homosexuelle Schriftsteller Jean GENET hat einmal den Satz geprägt, dass hinter jeder moralischen Entrüstung über andere auch ein wenig Besorgnis mitschwinge, vielleicht selber etwas verpasst zu haben. Die Familie stand Kopf. Nachdem Virginia kurzfristig eingeliefert werden musste, da sie auch an Nachbarn in der Straße Zettel verteilte, die sie unter die Scheibenwischer parkender Autos klemmte, erhielt sie die Diagnose paranoid-halluzinatorische Schizophrenie. Sie war ziemlich lange stationär geblieben und es war trotz Medikamentengabe und Schutz der Stationsgemeinschaft, vieler Einzelgespräche mit der behandelnden Stationsärztin und regelmäßiger Besuche der Herkunftsfamilie und der Partnerin (beide stets sauber getrennt) gar nicht so leicht gewesen, Virginia von ihrem Zettelvergabeverhalten abzubringen. Offenbar wollte sie eine Botschaft loswerden. Sie verteilte ihre Zettel auf der Station, an jeden Neuankömmling, an die Putzfrauen, die Angehörigen ihrer Mitpatienten.

Lange musste ich warten, um ihr Vertrauen werben, ihr helfen, ihre Scham zu überwinden, bis sie mir eines Tages anvertraute, was damals auf den Zetteln stand. Darauf stand immer der selbe Satz: Die Liebe ist die einzige Wahrheit. Da ist was dran, und ich finde es noch heute sehr schade, dass Virginia psychotisch werden musste, um zu ihm zu finden. Die Mutter ist längst tot, aber Virginias Blick ist noch immer leer.



Japanisches  Schriftzeichen
für  Liebe,  Eros




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