Wichtiger Koffer |
Eine Frage, die mich schon beschäftigte, als ich im Therapeutenberuf anfing, beschäftigt mich heute, zahlreiche Jahre später, in gleicher Intensität. Noch immer habe ich keine Antwort gefunden
darauf, wie sich die Dauer einer geistigen Beschäftigung eigentlich auswirkt auf den Prozentsatz an Vorurteilen, mit denen sie durchsetzt ist. Es heißt ja, zum Beispiel im gesellschaftlichen Bereich der Begegnung verschiedener Ethnien, etwa der Christen mit dem Islam, dass Vorurteile vor allem dann entstehen, wenn man nichts weiß vom Gegenstand der Beurteilung und von daher zu weit von ihm weg ist. Das würde, übertragen auf meinen Beruf, ja bedeuten, dass dann, wenn man jahrzehntelang in diesem Beruf arbeitet, man mit der Zeit vorurteilsfreier würde – quasi objektiver, elastischer und offener in seinem Urteil, das nicht länger einer groben Vorsortierung bedürfte, um das allererste Chaos, welches jede neue menschliche Begegnung birgt, ein wenig zu ordnen. Doch ist Erfahrung wirklich ein Antidot gegen Vorurteile? Oder kann sie auch gegenteilig wirken, als möglicherweise durch das altersbedingte Starrerwerden des Denkens begünstigter Beschleuniger des raschen Urteils? Man hat ja schon so viele Situationen und Patienten erlebt, die ähnlich waren – und deren innere und prognostische Beschaffenheit man zu kennen glaubt.
Natürlich gibt es sie zuhauf, die Vorurteile, die sich Therapeuten von ihren Patienten machen. Aber es ist doch auch wirklich so!! Reiche Patienten leiden auf hohem Niveau und sind in moralischer Hinsicht etwas schlechtere Menschen als Arme; schwule Männer hatten abwesende lieblose harte Väter; Frauen, die einen Rock tragen, haben das Wörtchen „hysterisch“ in der Strukturdiagnose stehen und allzu große Altersunterschiede bei Paaren verweisen auf unaufgelöste ödipale Fixierungen des jüngeren Teils. Junge Frauen, deren Mütter während des Jugoslawienkrieges nach Deutschland kamen, haben kein weibliches Selbstbewusstsein, weil ihre Mütter von ihren Vätern geschlagen wurden. Und da wir beim Schlagen angekommen sind: wenn das Wort „Polizist“ in einer meiner Supervisionsgruppen fällt, gehen wir mittlerweile, aus Erfahrung (!!) davon aus, dass der seine Frau schlägt.
Auch in der Fortbildungsszene sind Vorurteile beliebt. Da raschelt Papier und kurz knacken die synchron gezückten Kulis und die Textmarker, da wird in einer Fallbesprechung, die schon über eine Stunde läuft, dann doch noch plötzlich emsig und mit ernstem Gesicht mitgeschrieben, wenn der Dozent sich vergaloppiert und etwas aus seinem Erfahrungsschatz sagt, dass so klingt wie eine Regel. Endlich taucht sie vor dem Auge auf, eine vermeintlich stabile unumstößliche deutsche Bedeutungseiche inmitten der ganzen komplexen Psychomaterie, die dem Untersuchenden so oft eine kleinteilige archäologische Arbeit abverlangt bis zur Erschöpfung - und die dann auch noch mit einem Windhauch umgeweht wird, weil ein anderer Kollege sagt, so ist das doch gar nicht, das ist ganz anders! Heutzutage haben es die Studenten und Auszubildenden, die sich ernsthaft mit psychoanalytischen Konzepten auseinandersetzen, ohnehin schwer, man kann eine seelische Dynamik nicht einfach unter FREUD´s Blickwinkel betrachten und losassoziieren, sowie die ungeduldigen Pferde in der Startbox, kurz bevor das Rennen losgeht. Man kann mittlerweile ein und denselben Behandlungsfall unter triebpsychologischen, objektbeziehungstheoretischen, selbstpsychologischen oder traumapsychologischen Perspektiven sehen oder auch unter dem Blickwinkel der relationalen Psychoanalyse. Um jetzt bloß mal ein bisschen, ansatzweise, das Pfauenrad aufzufächern. Anstrengend, das Ganze. Manchmal bleibt dann nur noch das Vorurteil, um die angsterzeugende gedankliche Unordnung der sich darbietenden Möglichkeiten zu sortieren.
Bei Ayshe lag ich sowas von daneben. Ich staune heute noch. Ayshe war 71 Jahre alt, als sie bei mir wegen körperlicher Schmerzen eine Behandlung begann. Ich dachte zunächst, das wird nichts Langes. Ein Ehekonflikt von der gepflegten Sorte, ohne Kräche, ohne Gewalt. Aha. Sie war in der Türkei geboren und als junge Frau hierher gekommen. Die Eltern waren, nein, diesmal keine Bauern aus Anatolien. Ihr türkischer Vater war ein Volksschullehrer gewesen und ihre Mutter hatte kostenlosen Flötenunterricht gegeben, und Ayshe heiratete sehr jung einen jungen Türken, der sie, in Deutschland angekommen, jahrelang schlug. Sie gebar ihm zwei Kinder und als die soweit waren, das Drama der elterlichen Ehe zu verstehen, half ihr der ältere Sohn eines Tages dabei, eine Einzimmerwohnung zu finden und unterzutauchen. Sie stellte sich auf ihre Hinterbeine und schuftete sich, mit rudimentärer Ausbildung, in einer großen Firma nach oben, bis zur Sachbearbeiterin. Und dann heiratete sie, die alleinerziehende Türkin, einige Jahre nach Zerbrechen ihrer ersten Ehe ihren deutschen Chef, einen gutverdienenden, aber sozial wenig geländegängigen Mann. Aha. Ayshe sprach ziemlich gebrochenes Deutsch, das irritierte mich am Anfang, sie war doch schon fast 50 Jahre hier. Aber der Inhalt ihrer Sätze war zum Staunen. Sie hatte nach ihrer Berentung mit ehrenamtlicher Arbeit begonnen und gehörte zu denjenigen Helfern, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer stark akzentuierten deutschen Aussprache sehr begehrt waren. In ihrer Freizeit las sie Goethes Werke auf türkisch. Das erfuhr ich erst im Lauf der Zeit. Sie war Muslimin und kannte sich aus mit Christentum, Judentum und Buddhismus. Abends meditierte sie regelmäßig. Auch dies erfuhr ich erst im Lauf der Zeit. Ayshe war eine etwas zu höfliche, etwas zu unterwürfige Frau, die ich bin gekommt sagte und mein Mann hat gefahren. Durch die Ehe mit dem Chef war sie finanziell aufgestiegen und in andere Kreise gekommen. Sie strengte sich an. Bei häuslichen Essenseinladungen für Kollegen ihres Mannes war sie jahrelang um 5 Uhr morgens aufgestanden, damit alles klappen und gelingen möge, da sie sich mit der deutschen Küche schwer tat. An zwei Tagen der Woche wurde geputzt. Sie bemutterte ihn ziemlich, er bedankte sich bei ihr höflich für alles. Aber er redete nicht. Nach seiner Berentung saß er etwa zehn Stunden am Tag vor dem Computer, erhob sich aber stets pünktlich zu den Mahlzeiten von seinem Stuhl und kam in die Essecke. Und wenn sie ihn fragte, ob sie nicht einmal etwas unternehmen wollten im Herbst, dann sagte er, natürlich, Schatz, googelte die Hotels in einem Landstrich ihrer Wahl und druckte die ersten fünf aus, wähle du, mir ist ´s egal. Ich dachte noch, was soll das werden. Die Themen und Klagen wiederholten sich. Sie behauptete jedoch, die Sitzungen bei mir seien ihr wichtig und würden ihr helfen. Ich dachte noch, naja.
Da kommt sie eines Tages und berichtet mir minutiös von einem Gespräch, zu dem sie ihren Mann verdonnert hatte. Und für das sie zuvor eisern Konzentrations- und Entspannungsübungen durchgeführt habe, um bloß nicht dabei weinen zu müssen. Und dann habe sie es ihm gesagt, im gemeinsamen Schlafzimmer. Sie habe dabei nach oben gedeutet und tief Luft geholt: Da oben auf dem Kleiderschrank, da liegt meine braune Koffer. Mit diese Koffer bin ich damals zu dir gekommt. Wenn sich nichts ändere, dann ich gehe. Mit diese Koffer. Mehr brauch´ ich nicht.
Ayshe ist wenige Monate später gegangen. Und in meinem Kopf drehte sich alles.
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