Teilansicht: Bertall L`Intrépide Soldat de plomb |
Es begab sich, dass einmal ein Patient besonders lange brauchte, um sich zu seinem ersten Termin bei einem psychologischen Berater zu entschließen; ein ganzes Jahr lang hatte es gedauert, bis er nach langer innerer Reise leibhaftig dort ankam,
nachdem er zunächst seinen Vater vorgeschickt und diesen den Berater hatte kennen lernen lassen. Aber der Reihe nach, damit sich der Leser ein vollständiges Bild von dieser Begebenheit machen möge. Young-Juns Vater hatte eines Tages den Berater angerufen, um einen Termin für seinen jüngsten Sohn, der ihm besonders lieb war, zu machen. Der Berater bat darum, dass der Sohn, gerade zum volljährigen Manne geworden, doch selber noch einmal anrufen und den Termin bestätigen möge, war es ihm doch am Telefon so erschienen, als ob der Vater zwar höchst besorgt war, aber des Sohnes Einstellung zu dem Unterfangen noch umso ungewisser. Eine Terminbestätigung durch den Sohn, dessen Namen Young-Jun wir getrost mit „Juwel“ übersetzen dürfen, wurde dem Berater nicht zuteil, doch er hatte dennoch das Gefühl, das vereinbarte Gespräch werde stattfinden. Sein Gefühl sollte ihn nicht trügen.
Der Berater saß also, als der vereinbarte Termin nahte, an seinem Schreibtisch, und pünktlich klingelte es. Als er die Türe öffnete, erblickte er keinen 18 Jährigen, was ihn erstaunte. Stattdessen stand ein etwa 40 Jahre älterer Mann vor ihm, der sich als Young-Juns Vater vorstellte. Der Vater wirkte ernst, entschuldigte Young-Juns Abwesenheit. Sein Sohn sei gar nicht weit weg, im Grunde nur etwa 100 Meter; er habe am Ende der langen gemeinsamen Fahrt zum Büro des Beraters gesagt, er ziehe es vor, auf dem Rücksitz des Reisegefährts auf ihn, den Vater, zu warten. und solange zu schlafen. So kam es, dass der Berater nicht mit Young-Jun sprechen würde, sondern über Young-Jun, gemeinsam mit seinem Vater, und er bat diesen höflich herein in sein Sprechzimmer.
Young-Jun war der letzte einer Reihe von Kindern an einem Königshof. Für ihn hatte das Schicksal Besonderes vorgesehen, und das Füllhorn der Natur hatte den Jungen mit besonderer Sensibilität und Tapferkeit ausgestattet, dazu noch mit einer künstlerischen Neigung, die Young-Jun schon in dessen frühen Jahren zu einem Dichter hatte werden lassen. Andererseits, und hier werden wir der tragischen Rückseite vieler schicksalshafter und begnadeter Talente gewahr, hatte die Vorsehung Young-Jun mit einem charakterlichen Stoffe zu wenig bedacht: es fehlte ihm an Bodenständigkeit und praktischer Standfestigkeit. Von früh an hatte der Junge balancieren müssen, sich bemühen um Haltung, hatte die Furchen und Rinnen des menschlichen Erlebens kennengelernt, dabei die Leichtigkeit anderer, die tanzen konnten und sich amüsierten, vermissen müssen. Young-Jun hatte nur ein Bein. Als kleines Kind hatte er erlebt, wie die Mutter schwer erkrankte, und ihren Schmerz tapfer, wort- und erinnerungslos mitgetragen. Die Eltern stritten sich zudem oft. Einer seiner älteren Brüder, von kräftigerer Statur und einem robusteren Seelenleben gesegnet, hielt ihm des Nachts die Ohren zu, damit er nicht hören müsse, wie die Eltern im Palast oft lautstark debattierten, weil sie glaubten, dass ihre Kinder in ihren Betten schliefen. Man schickte den Knaben, der sich als sehr begabt auf vielen Gebieten erwies, von früh an in verschiedene Schulen, so lernte er die Religion kennen und entwickelte ein starkes Gewissen, welches ihm Rückhalt und Last zugleich werden sollte. Auch körperlich blieb Young-Jun trotz seiner schmalen Statur standhaft und erging sich in Mannschaftsspielen, in denen er stets geschätzt war, aber immer wieder weiter wanderte, da er den ihm innewohnenden Drang nicht aufgeben konnte, noch weiter zu kommen und auch noch die letzten Schwächen, die er bei sich wähnte, auszumerzen. Und das alles mit nur einem Bein! Bald starb der Großvater und es brach Young-Jun das Herz, seinen Vater beim Begräbnis weinen zu sehen. Nur wenig später starb auch noch Young-Juns Lieblingsonkel, der in einem Anbau des Palasts wohnte. Als er zum Manne heranreifte, wurde seine geliebte Mutter erneut, und diesmal noch schlimmer, krank. Auch sein Vater wurde älter und schwächer. Young-Jun wurde traurig. Er konnte sich an nichts mehr freuen und schrieb Gedichte. Nächtelang suchte er deinen passenden Reim für seine traurigen Gedanken, und oft schlief er erst des Morgens ein, wenn die anderen Mitglieder des Hofes schon ihrem Tagwerk nachgingen. Gesprochen wurde in der Königsfamilie nicht viel; ein jeder schien mit seinem eigenen Leben beschäftigt und wollte nicht andere noch damit belasten. Eine schwere Zeit war angebrochen. Young-Jun wuchs weiter heran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, obwohl er so gerne die Zeit hätte stillstehen lassen. Seine Brüder hatten mittlerweile nach und nach das Weite gesucht und waren ausgezogen, sein Vater verkroch sich in sein Dienstzimmer, von wo aus er sein Land regierte. Und seine Mutter wurde immer kränker. Sie flehte ihn an, er möge sie stolz machen und ein großer Krieger oder berühmter Diplomat werden. Doch Young-Jun zog sich mehr und mehr zurück. Er gab sich fernöstlicher Musik hin und Dämpfen, die sein Gehirn vernebelten, er grübelte über die Zeit und wie sie unaufhörlich verging und darüber, dass er kein Recht habe, seine Zukunft ins Auge zu fassen, während die anderen, die er nach und nach zu verlieren drohte, sich davon verabschieden mussten. In seiner großen Verzweiflung mauerte sich Young-Jun ein in ein Zimmer ohne Zeit, aus dem er alle Uhren verbannte. Er ging nicht mehr zur Schule. Sein Vater sprach beim Berater vor, was er nur tun solle. Young-Jun aber blieb vor dem Hause des Beraters in der Kutsche sitzen und schlief. Sein Herz schmerzte unaufhörlich, und es schien, als ob auch die schmerzenden Herzen der anderen Mitglieder der Königsfamilie sich alle in seiner Brust vereinten, um weiter schlagen zu können. Mit seinem Lieblingsgedicht in der Hosentasche machte sich Young-Jun ein Jahr, nachdem der Vater den Berater aufgesucht hatte, selbst auf den Weg zu diesem. Höchst skeptisch, ob es ihm zustehe, und höchst unsicher, ob es ihm zur Schande gereiche, um Hilfe zu bitten, sprach er Woche für Woche vor. Der Berater wurde auch traurig. Er konnte Young-Jun verstehen, was dem jungen Manne zu einem wenngleich kleinen Troste gereichte, während seine Freunde und früheren Weggefährten sich den Vergnügungen der Jugend und den Verpflichtungen ihrer jeweiligen Lehrjahre hingaben. Seine Eltern drohten und schimpften,
seine Großmutter schalt ihn einen Faulenzer und die umgebenden Fürsten
schüttelten den Kopf und tuschelten über den missratenen Königssohn.
Eines Tages kam ein Windhauch und wehte die Mutter um. Young-Jun konnte nicht weinen, sondern verfiel in einen langen todesgleichen Schlaf. Immer wieder klopften sein Vater, seine Großmutter und seine älteren Brüder, zuletzt auch sein Berater, an seine Zimmertüre. Die Zeit verging. Man befürchtete das Schlimmste. Eines Tages wachte Young-Jun auf. Er rieb sich die Augen, erhob sich von seinem Lager und stellte sich wieder auf sein Bein.
Den traurigen Kinderseelen gewidmet |
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