Circa jede vierte Arbeitswoche des gewissenhaften Therapeuten endet mit einem Pendlertag. Man trifft sich zur Besprechung.
Damit jeder der Teilnehmer wenigstens gelegentlich vom Herumfahren entlastet ist, trifft man sich reihum in den Praxen der Mitglieder, und das heißt für den jeweiligen Praxiseigentümer, an dem betreffenden Tag braucht er nicht reisen, sondern muss nur Kaffee kochen und Tee. Was auch nicht einfach ist. Bei den weiblichen Teilnehmern fällt auf: sie sind kompliziert bei der Getränkewahl, Kaffee putscht sie zu viel auf, gerät schier in eine Täterposition, vor allem postklimakterisch, und beim arglos angebotenen Tee kommt die paranoide Frage auf: ist das Schwarztee? – was, unter uns, assoziativ belegt ist mit verstopfungsauslösend, Zähne gelbfärbend und möglicherweise auch noch zu aufputschend. Also kehren so merkwürdige Phänomene wie Sencha-Holunder-Tee, Yogi-Tee mit Cardamom und Ingwer und Rotbuschtee mit Vanille-Hummer-Aroma in Therapiepraxen ein. Außerdem gibt es ja da auch noch das berühmte Buch mit dem Titel "Du bist gar nicht krank, du brauchst bloß Wasser" (oder so ähnlich), und mir hat mal eine Kollegin, die immerhin Ärztin war und ziemlich erfahren, erklärt, dass sie ihre Wasserflasche aus diesem Grunde stets selber mit sich führe.
Einer ist immer schon früher da, dafür ein anderer fast immer zu spät. Da trifft die kollegiale Intervisionsgruppe auf das wahre Leben und bildet anschauliche Schnittmengen. Erst mal geht es dann um´s warming up. Manche weiblichen Teilnehmer machen´s wie die Lidstrichgirlies aus der Zehnten und umarmen sich opernreif und küssen sich rechts und links, als stünden sie von einer Pelzstola umhüllt auf einem Flughafen in Sankt Petersburg und träfen nach langer Zeit wieder auf ihren Geliebten. Männer sind da einfacher gestrickt. Es reicht ein Hallo, maximal mit dem menschelnden Nachsatz Und, wie? und das war´s.
Die Dauer des Happenings ist treu nach dem rhythmischen Vorbilde der jahrzehntelang besuchten Fortbildungsveranstaltungen auf klassischerweise eineinhalb Stunden fixiert. Die erste Hälfte besteht aus Austausch. Das ist sozusagen die Bunte für Therapeuten, who ist who. Wer hat eine halbe Praxis abgegeben, wer scheint sich mehr zurückzuziehen und wird bei öffentlichen Weiterbildungen nicht mehr gesichtet; wer ist alt geworden, gestorben, hat Ärger mit der KV oder ist aufgestiegen in den Olymp der Lehrtherapeuten? Gibt es neues von der berufspolitischen Front, wann werden endlich unsere Leistungen besser bezahlt und was macht man, wenn die hotline – Mitarbeiter des Abrechnungssoftwarehauses nicht mehr verbergen können, dass sie einen für computerblöd halten? Wie soll man reagieren, wenn ein Patient betrunken in die Praxis kommt, und wie geht man vor, wenn er auch noch den Teppich vollkotzt? Gibt es ein Leben jenseits der Praxis? Wer war mal wieder in einem guten Konzert? Man muss dann, als Gruppengesamtkunstwerk, die Kurve kriegen. Sonst hängt man drin, im familiären smalltalk, und vergisst Teil II des Treffens, den Fall.
Nicht umsonst heißt der Fall Fall. Schildert man eine therapeutische Beziehung mit einem Patienten, dann geht es hier um´s Bereichertwerden durch andere Meinungen, was BALINT das Kaleidoskop der Gruppe nannte, und das bedeutet Stress und narzisstische Herausforderungen. Was für den einen Befruchtung, ist für den anderen Infektion. Denn der Erzähler steht, nein, sitzt da mit seinen mühsam angesammelten theoretischen Vorannahmen und muss sich plötzlich neue Annahmen anhören, schlimmer noch, vielleicht sogar einige seiner Annahmen durch neue austauschen. Die Fallhöhe hängt natürlich davon ab, wie überzeugt der Erzähler vorm Fallbericht war. Gehört er zur Fraktion Ich erzähl´euch mal, wie genial ich bin und hat keine relevanten Fragen an die Resttruppe, sondern eher ein, sagen wir´s vorsichtig, Mitteilungsbedürfnis, kann es ihm wie eine Beleidigung, Zeitverschwendung oder bestenfalls eine Störung vorkommen, wenn seine Kollegen über den Fall anders denken als er selbst. Möchte noch jemand Kaffee? Den Zuhörern fallen eigene Fälle ein; die ganz anders, oder genauso, oder ungefähr genauso (häufigste Variante) waren. Der Fall wird sozusagen breiter, aber immer noch aufgrund der Professionalität der Teilnehmer thematisch soweit fokussiert, dass er gerade noch durch die Tür passt.
Es gibt ja diese hochinteressante Rettungssanitäter-Theorie in kollegialen Gruppen, die Supervision oder Intervision betreiben. Diese besagt, dass die diejenigen, die den Fall berichtet bekommen, sich augenblicklich mit dem wehrlosen Patienten identifizieren und ihre Mission fortan darin sehen, den Patienten vor dem schlechten Therapeuten, der über ihn berichtet, schützen zu müssen, indem sie sich innerlich ein Schwesternhäubchen aufsetzen und wortreich zu alternativen Diagnose-, Theorie- und Interventionsmethoden aufschwingen und diese eindringlich zum besten geben. Außerdem gibt es noch die als komplementär zu betrachtende Wundenleck-Theorie; hier sind zwar auch imaginäre Schwesternhäubchen am Werke und Identifizierungsprozesse, aber diese richten sich auf den leidenden vortragenden Therapeuten, der vor dem Patienten geschützt werden muss. Zuweilen wird sogar weiterer Kontakt verboten und man rät zum Abbruch der Therapie, denn sowas würde man sich nicht bieten lassen oder, feiner formuliert, man fragt sich schon, warum sich der Kollege sowas bieten lässt.
Schließlich ist es Zeit zu gehen. Man sucht noch, schon unter Zeitdruck, einen neuen Termin und stellt fest, dass immer einer aus der Gruppe ausgerechnet da verhindert ist. Die Bitte-nach-Euch-Theorie besagt, dass der aufgrund einer Terminkollusion abwesende Teilnehmer beschwörend sagt, das sei schon in Ordnung, wenn sich die Gruppe mal ohne ihn trifft, und dabei die Versuchung nicht ganz unterdrücken kann, eine tiefe Opferbereitschaft zu signalisieren. In Wirklichkeit ist er heilfroh, zu der besagten Zeit ein verlängertes Madrid-Wochenende inclusive Pradomuseum zu verbringen, aber das muss ja nicht auch noch verwörtert werden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen