Geht doch noch... oder ? |
Ein außerordentlich sensibles Thema ist die Frage des richtigen Zeitpunktes. Diese Frage betrifft nicht nur Anfänge oder Premieren (Wann wagt ein Sekundarstufe-Zwei-Schüler den ersten Kuss? Wann ist der richtige Moment, den jahrelang schweigenden Chef um eine Gehaltserhöhung zu bitten?).
Genauso wichtig und somit von mindestens ebenbürtiger Relevanz ist die Frage des Aufhörens.
Ich finde, gerade letztere Entscheidung wird oft im allgemeinen gesellschaftlichen Empfinden ungerecht und viel zu oberflächlich abgehandelt. Oft erscheint sie vorgegeben (die Deutsche Rentenversicherung schickt einen Brief, in dem drin steht, ab wann man mit wie viel Bezügen zu rechnen hat, ohne sich täglich um 4 Uhr 45 aus dem Bett und dann über die ewig verstopfte A 1 ans Fließband zu quälen; dem Gatten Erich wird nach 25 Jahren bei einem scheinbar üblichen Sonntagsfrühstück mit Rührei von seiner Uschi angekündigt, dass sie ab sofort einen Chi Gong – Kursus auf Elba machen und sich außerdem von ihm trennen wolle, weil das nicht alles gewesen sein könne – da ist ja dann, in beiden Fällen, tatsächlich nichts mehr zu machen?).
Ich finde, gerade letztere Entscheidung wird oft im allgemeinen gesellschaftlichen Empfinden ungerecht und viel zu oberflächlich abgehandelt. Oft erscheint sie vorgegeben (die Deutsche Rentenversicherung schickt einen Brief, in dem drin steht, ab wann man mit wie viel Bezügen zu rechnen hat, ohne sich täglich um 4 Uhr 45 aus dem Bett und dann über die ewig verstopfte A 1 ans Fließband zu quälen; dem Gatten Erich wird nach 25 Jahren bei einem scheinbar üblichen Sonntagsfrühstück mit Rührei von seiner Uschi angekündigt, dass sie ab sofort einen Chi Gong – Kursus auf Elba machen und sich außerdem von ihm trennen wolle, weil das nicht alles gewesen sein könne – da ist ja dann, in beiden Fällen, tatsächlich nichts mehr zu machen?).
Aber es gibt nicht nur vorgegebene Zeitpunkte, um etwas zu beenden, sondern auch aktiv herbeigeführte; sie sind oft mit persönlich bedeutsamen, einsamen inneren Entscheidungsprozessen verbunden, für die nicht nur historische Weisheiten wie etwa das Delphi´sche Orakel, sondern zuweilen sogar auf den ersten Blick unpassend erscheinende literarische Werke wie Stilmagazine zu Rate gezogen werden. Doch dazu später mehr.
Um die herbeigeführten Abschiede, also bewusste Trennungen vom Bisherigen, freiwillig beschlossene Einschnitte in Gewohntes… geht es auch beim Berufsende des niedergelassenen Psychotherapeuten. Genauer gesagt, des alternden niedergelassenen Psychotherapeuten. Wobei es auffällig viele ehemals angestellte Therapeuten gibt, die nach dem regulären altersbedingten Ausscheiden aus der angestellten Tätigkeit in einer Klinik oder sonstigen Institution… mit 65 oder 66 Jahren noch zu jahrelang niedergelassenen Therapeuten mutieren. Nun ja – die berufsständischen sogenannten Versorgungswerke der Therapeuten glänzen nicht gerade durch rekordverdächtige Rendite. Und da Therapeuten im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen nicht zu den Superverdienern der Heilberufssparten gehören, wäre zudem denkbar, dass man als Therapeut die eigene Altersversorgung finanziell aufstocken möchte. Und deshalb oft bis ins hohe Alter arbeitet - zumal die Berufsordnung keine „Zwangsverrentung“ mehr vorsieht. Wer will, kann also arbeiten bis zum Umfallen. Und erstaunlich viele Therapeuten tun das. Von Allgemeinärzten hört man es zuweilen auch, aber die sind dann mit einem hohen moralischen Wertesystem ausgestattet und leben auf dem platten Land; sie wollen den ihnen in vier oder fünf Jahrzehnten ans Herz gewachsenen Patienten den eklatanten Ärztemangel nicht zumuten, der nach Schließung einer Praxis in strukturschwachem Gebiet erbarmungslos sicht- und vor allem fühlbar wird. Von Chirurgen hört man dagegen selten vom freiwilligen Weitermachen; da gibt es vermutlich allein schon in körperlicher Hinsicht gewisse Grenzen bezüglich der Zahl der möglichen Berufsjahre. Wogegen zitternde Hände und Schwierigkeiten, viereinhalb Stunden im Stehen hochkonzentriert bei künstlichem Licht im Bauchraum oder auch im vorderen Augenabschnitt zu wühlen, bei einem Psychotherapeuten wiederum kein Gegenargument darstellen würden, auch im Alter weiterzuarbeiten – weil er eine solche Arbeit ja nicht machen muss.
Noch etwas scheint mir ein bedeutsamer Unterschied zwischen den Fachgruppen: macht ein Hausarzt einen Fehler, z.B. weil er aus Versehen über die Wechselwirkungen zwischen dem Schmerzmittel X und dem Diabetesmedikament Y nicht mehr auf dem Laufenden ist… führt das möglicherweise zu einer akuten hypoglykämischen Krise und Noteinweisung und macht in der Nachbarschaft oder morgens beim Bäcker die Runde. Und begeht ein Chirurg einen Fehler und setzt den Schnitt wegen Konzentrationsmängeln oder körperlicher Schwäche daneben… dürfte das a) rasch Folgen haben (hoffentlich nicht so krass) und b) sich ebenfalls wie ein Lauffeuer herumsprechen sowie die Ärztekammer auf den Plan rufen.
Machen alternde Therapeuten eigentlich Fehler? Und wenn ja, wer erkennt die als erster? Der Therapeut selbst, der Patient oder der Partner des Patienten? Auch ein Praxisangestellte als strukturell vorgesehenes Korrektiv wäre hier prinzipiell denkbar, ist aber meistens nicht vorgesehen in einer Therapeutenpraxis; und selbst wenn, wäre sie beim Gespräch im stillen Kämmerlein nicht dabei. Der einzige Altersfehler-Klassiker (der zwar keine Monopolstellung bei weißhaarigen Seelenklempnern aufweist, aber immerhin im Alter häufiger vorkommt als in jüngeren Jahren) ist der einschlafende Therapeut. Was der Therapeut allerdings oft gar nicht so sieht, sondern als Fehlwahrnehmung seines egal ob alten oder jungen Patienten interpretieren kann. Oder, wenn´s eng wird, als methodisch astreine Gegenübertragungsmanifestation, für die er, der Therapeut, nichts könne.
Arbeiten Therapeuten schlechter, nur weil sie älter geworden sind? Lange Zeit tat ich mich gar nicht schwer mit der Beantwortung dieser Frage und ging, als junge Therapeutin, davon aus, dass man in diesem Beruf, so wie ein hochwertiger Rotwein aus dem Haut Médoc, immer besser würde. Es würden sich ja nicht nur Berufserfahrung, sondern mit der Zeit auch noch die eigene Lebenserfahrung zur absolvierten Ausbildung dazugesellen, und das auch noch Jahr für Jahr sich steigernd bis hin zur Weisheit! Ob dagegen ein lebenserfahrener oder lebensunerfahrener Hals-Nasen-Ohren-Arzt mein Innenohr überprüft, ist mir egal. Und was die körperliche Verfallsdimension angeht: In einem bequemen Sessel sitzen und sich im knapp stündlichen Rhythmus einmal zu erheben und eine Hand zu schütteln, das schien mir bei der Frage des Optimalalters eines Therapeuten vernachlässigbar. Schließlich schienen es ja die Jungen zu sein, die die typischen Fehler machten: zu ehrgeizig in ihren Therapiezielen, zu blauäugig gegenüber den Möglichkeiten der Methode, zu fixiert auf ihre Manuale, die Effektstärken ihrer erlernten Techniken und die zugrundeliegenden Theorien.
Die Alten dagegen bedienten in meiner Vorstellung ziemlich exakt den Archetypus des Alten Weisen, jener archetypischen Gestalt, die die "chaotischen Dunkelheiten des bloßen Lebens mit dem Lichte des Sinnes durchdringt", wie es der meisterliche Kenner der Archetypen, Carl Gustav JUNG, einmal formulierte. Doch zu dieser Erkenntnis eines Analyse-Promis gesellten sich im Laufe meiner eigenen jahrelangen Beobachtungen noch andere Einsichten, die mich doch etwas zweifeln lassen an der Alter-Therapeut-ist-guter-Therapeut – Hypothese.
Beginnen wir, um die Beweisführung nicht gar so garstig zu konkretisieren, mit den Motiven mancher Hilfesuchender. Da ist zum einen die Beobachtung, dass Patienten, die ihren früheren alten Therapeuten wechseln, wie auch Therapeuten, die ihren früheren alten Supervisor wechseln, zuweilen erstaunlich schwammig auf die Frage antworten, warum sie das tun. Bohrt man unelegant nach, wird ein Phänomen sichtbar, das ich mal diplomatisch als „gnädiger Gesprächspartner“, undiplomatisch als „let´s go – Haltung“ älterer Therapeuten oder „dolce vita – Phase“ erfahrener Supervisoren titulieren möchte; viele stellen sich nicht mehr als echtes Gegenüber zur Verfügung, sondern nicken alles ab und winken alles durch, weise lächelnd oder, etwas raffinierter, indem sie sich selbst und ihrem Anvertrauten ihre unkritische Seelenruhe als kluges Hinwegsehen über Nichtigkeiten verkaufen oder als Erkenntnis, dass stärkendes Loben etwas elementar Wichtiges sei für die seelische Entwicklung. Und nun zu den Motiven der Therapeuten: Vielleicht sind sie müde geworden, zum Beispiel was ihre Kapazität für Selbstkritik angeht (sie haben ja auch mittlerweile andere Probleme nach jahrzehntelanger braver beruflich geforderter Infragestellung ihrer Selbst, zum Beispiel, ob sie die nötige Hüftoperation nun angehen sollen oder lieber nochmal eine orthopädische Zweitmeinung einholen). Vielleicht sind sie auch müde geworden, Konflikte mit dem Patienten durchzufechten … und, Variante B, diese überhaupt noch erkennen zu können (Variante C, genauso schlimm: erkennen zu wollen). Konfliktbearbeitung ist anstrengend und wer älter wird, muss Kräfte sparen. Auf Vorträgen, da wird oft vollmundig ausgepackt, sogar mit über 80 Jahren… und alle hören dem klugen Alten gebannt zu, auch wenn es bei genauerem Hinsehen oftmals deren berufslebensübersichtliche Konservenkost ist. Aber face-to-face und täglich auf´s Neue, dazu noch ohne abschließenden Beifall, ist es schon ermüdend, sich der Beziehungsdynamik wirklich zu stellen; darüber hinaus, lassen wir mal diesen verfahrensspezifischen Aspekt zur Seite, ist es auch für andere als analytisch orientierte Behandler nicht immer vitalisierend, sich den inhaltlichen Themen der Jungen auszuliefern: "Lena hat mir dann eine Whatsapp geschickt, dass Max nicht zum Feiern kommt, dabei hat er gestern noch Franziska gesagt, dass er auf Julia steht und deswegen auftaucht! Da musste ich total heulen und habe mich auf dem Klo eingeschlossen. Ich finde das ganz schön spooky." Ja genau, der alte Therapeut findet das auch.
Neben den oben wenig diskret angedeuteten ubiquitär verbreiteten Ängsten vor Altersarmut gibt es natürlich wesentlich menschlichere, geradezu anrührende Motive, die eigene psychotherapeutische Tätigkeit nicht mit einem klaren Schnitt an den Nagel zu hängen: der Wunsch nach Gesellschaft und Kontakt, der dem alternden Menschen oft viel abverlangt und im Falle dessen abrupter Frustration zu Depressionen führen kann. Das durch dosiertes Weiterarbeiten zu umgehen, wäre ja nicht weiter schlimm, potentiell sogar klug. Es schlägt sich aber blöderweise auf die Qualität der therapeutischen Arbeit nieder, indem Themen, die zur Auseinandersetzung geschweige denn Konfrontation mit dem Patienten oder auch Supervisanden oder Lehranalysanden führen könnten, ausgeblendet werden; man will gemocht und nicht verlassen werden. Der Patient und der junge auszubildende Kollege sowieso, und sei es durch schonendes Vorgehen und Gestalten der Sitzung, damit der Therapeut bzw. Supervisor auch körperlich gut durchhält und keinen Herzinfarkt bekommt, weil man ihm allzu deftig die eigene Unzufriedenheit mit dem Fortschritt der gemeinsamen Arbeit unter die Nase gerieben hat. Großeltern-Übertragungen und Enkel-Gegenübertragungen haftet dagegen etwas Wohliges an. Mir fallen die Besuche bei meiner Oma ein, als ich vier oder fünf Jahre alt war: Grießbrei mit viel Butterflöckchen und heile Welt – es war wie im Paradies!
Was ist der Kairos, der richtige Zeitpunkt? Ich habe mal einem guten Freund, der selbst nicht mehr der Jüngste war und dessen Lebenserfahrung und Ansprüche gegenüber einer adäquaten Lehranalyse ich berücksichtigen wollte, auf seine Bitte hin zu einer hochangesehenen Analytikerin geraten; diese befand sich allerdings, schätze ich mal, in der zweiten Hälfte der Siebziger. Er war begeistert und schätzte sie sehr. Dummerweise war er Arzt und nicht nur etwa ein Jahr später bei der insgeheimen Diagnose einer beginnenden kognitiven Störung beteiligt, sondern rief später auch noch während einer von ihm bezahlten Sitzung einen Krankentransport, da sie einen Schwächeanfall erlitt. Ich hätte es nicht vorhersehen können, denn zum völlig normalen Kräfteverfall des alternden Therapeuten gesellt sich ein eigenartiges Tabu seiner kollegialen und leider auch oft seiner privaten Umgebung, diesen Verfall sowie die Realität des dahinterstehenden Alters (wie bei französischen Filmdiven) zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn ihn daraufhin anzusprechen. So dass es ein narzissmusverdächtiges Phänomen des nicht stattfindenden Alterns gibt, welches wohl ein gewisses Privileg des Therapeutenberufs darstellt. Manchmal entstehen ausgedehnte zeitliche Unterbrechungen des Settings, da der Behandler längere Urlaubs- und Ruhepausen braucht, oder er stirbt einem Patienten mitten in einer Therapie einfach weg. Vielleicht klingt das nun aggressiv überphantasiert, aber… es passiert tatsächlich! Der alternde Therapeut nimmt hier eine Möglichkeit in Kauf, die er vierzig Jahre früher als psychodynamisch denkender Dozent schwer angeprangert hätte - als Patienten schädigend und rücksichtslos deren Trennungssensibilität missachtend.
Wann ist er also, der Kairos, der bei den alten Griechen etwas derartig Hochstehendes war, dass er von den Göttern gesandt wurde, einer messianischen Erfüllung gleich. Meiner Meinung nach muss man nicht nur begründen, warum man eine Sache begonnen hat und warum man eine Sache beendet; sei es eine Partnerschaft, das Besitzen eines Hauses oder das Ausführen eines Berufes. Man sollte genauso ernsthaft begründen, warum man etwas immer weiter macht.
Kommen wir zurück zur Konsultation von Stilmagazinen in dieser Frage. In einer kollegialen Supervisionsgruppe, deren längste Teilnehmerschaften schon fast 20 Jahre lang währten, wurde ich eines Tages überrascht. Eine Kollegin sagte zu Beginn, heute wolle sie keinen Patientenfall berichten, sondern sie habe eine „teilweise persönliche Frage“. Wir waren alle gespannt. Sie frage sich in letzter Zeit häufiger, woran man eigentlich erkenne, dass man zu alt sei für den Beruf. Erst einmal schwiegen alle. Vielleicht, weil niemand Übung hatte beim Beantworten solcher Fragen. Vielleicht auch, weil wir uns altersmäßig nun nicht gerade meilenweit von ihr entfernt wähnten – weder nach vorne noch nach hinten. Wir waren befangen. Ich als Leiterin schwieg zunächst auch. Aus den genannten Gründen, aber auch, weil mir eines klar war: Dazu etwas wenigstens einigermaßen Kluges, bestenfalls sogar Hilfreiches zu sagen, war eine echte Herausforderung! Ich überlegte, dass es gut sein könnte, quasi mit einer Metapher oder einem Aphorismus zu antworten. Wie genial! Dann fiel mir ein, dass ich mal in einem Moderatgeber als junge Frau einen Satz gelesen hatte, der sich auf die Beurteilung der richtigen Rocklänge für einen selbst bezog. Wie oberflächlich!
Wenn sie sich fragen, ob ihr Rock zu kurz ist, ist er zu kurz!
Die Kollegin hatte sofort verstanden. Sie musste lachen. Alle mussten wir lachen. Wenig später hat sie die Gruppe, wie sie sagte, aus Altersgründen verlassen. Ich vermute, das mit den Altersgründen stimmte. Ihre Beine jedenfalls waren wirklich nicht mehr minirockgeeignet.
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