f Psychogeplauder: Synchronspringen

Samstag, 24. Oktober 2020

Synchronspringen

 


Yes ... we  can  do  it!  Together!

Rüdiger hatte mir beim Erstgespräch zunächst ein farbiges Miniplakat mit einer Konzertankündigung auf meine Seite des kleinen Tisches gelegt. Die Ankündigung betraf einen Gesangsabend, der vor über drei Jahren stattgefunden haben musste. Es hatte etwas leicht Vorwurfsvolles drin gelegen in dieser Geste, auch ein bisschen Wut – ich würde sagen, er hat den Zettel nicht direkt hingepfeffert, aber etwas Tiefempfundendes hatte er da schon – wortlos und heftig – mir mal eben zugeschoben. Mit der Botschaft, mach´ Du es. Ich kann es nicht.

Die schöne, pralle, in Purpurrot gewandete Frau auf dem Miniplakat war der Star des Abends, das war klar auf den ersten Blick. Ein Mezzosopran. Er hatte sie durch einen tragischen Unfall verloren und war darüber nicht mehr hinweggekommen. Er redete Tag und Nacht mit ihr. Ihre Sachen lagen in seiner Wohnung herum, in Koffer und Schrankwände gequetscht, unberührt seit Jahren. Nichts war fähig, seinen Schmerz zu lindern, er weinte auf Autofahrten zur Arbeit, nachts, auf dem Friedhof und beim Essen. Er weinte selbst dann, wenn er sich dem einzigen Lichtblick zuwandte, den er hatte, dem Musikmachen. Er war ihr musikalischer Partner gewesen, ihr Mann und ihr Manager.

Während der Therapie ging es zäh, mühsam, erst auf und ab, dann allmählich eher aufwärts, in kleinsten Schritten. Der Todestag wurde begangen, ihres Geburtstages wurde gedacht, Weihnachten war ganz schlimm. Eine Nachfolgerin für die nicht nur verlorene Frau, sondern auch deren Stimme ward nicht gefunden – obwohl Rüdiger vom Konzerteveranstalten lebte.

Eines Morgens, es muss so ungefähr nach zweijähriger Therapie gewesen sein, bereite ich wie jeden Tag die Unterlagen der heutigen Patienten vor und mein Blick und dann meine Hand streift über Rüdigers Karteikarte. Ich hab diese Karteien lieber analog vor mir als in elektronischen Dateien. Da fällt mir das Miniplakat raus und direkt auf meinen Teppich. Purpurrot auf blau. Ein schönes Bild. Ich hob es auf und dachte: Irgendwie ist es Zeit, das nicht länger aufzuheben. Er muss das jetzt übernehmen. Ich werde es ihm heute zurückgeben.

Ich legte es auf meine Seite des kleinen Tisches, bevor er kam. Er ging nicht drauf ein. Vermutlich weil er die kleine alte Leihgabe gar nicht wahrgenommen hatte. Wir redeten über einige Dinge, die sich in der vergangenen Zeit seit dem letzten Gespräch ereignet hatten. Rüdiger war vor einigen Monaten umgezogen. Es war soweit alles eingerichtet und er hatte sich unter großem Energieaufwand auch mit den Sachen seiner Frau befasst. Manche bereits weggegeben, manche aufgehoben. Manche angeschaut und danach tagelang nicht mehr anfassen können. Er berichtete, dass seit einigen Tagen das große Originalplakat des letzten Konzerts in seinem neuen Wohnzimmer einen Ort erhalten habe. Oh das ist schön. Sie haben es aufgehängt? Nein; es lehne an der Wand.  Er habe noch gezögert es aufzuhängen. Warum? Zu schmerzlich? Eigentlich nicht, sagte er, aber der Layouter habe damals einen Fehler gemacht und den Namen des Veranstalters und musikalischen Begleiters vergessen. Er habe vor drei Tagen den Layouter angerufen, der habe sich gewundert, nach der langen Zeit… aber er habe die Grafikdatei von damals ziemlich schnell wiedergefunden und setze jetzt nachträglich noch den Namen ein. Es war der Name Rüdigers. Das ist gut, sage ich. Schließlich sind sie ja auch noch da. Sogar noch am Leben. Ja, sagt Rüdiger, komisch, dass heute auf Ihrem Tisch der Flyer liegt. Den habe ich ihnen doch damals gegeben. Ich hab´ ihn gleich gesehen, als ich reinkam. Und dachte, das gibt´s doch nicht, liegt heute der Flyer da.

Das war wohl ein Fall von Beziehungsanalyse nach Thea Bauriedl, beschrieben z.B. im Buch „Die Veränderung beginnt im Therapeuten.“* Sie schildert, wie sich in der Gegenübertragung des Therapeuten neue Perspektiven, Gefühle und Impulse manifestieren – die er bisher während der Therapie nicht hatte, und die ein Indikator sind, dass im Patienten etwas Wichtiges passiert, im Sinne eines Entwicklungssprungs. Manchmal hinkt der Therapeut auch hinterher. Jedenfalls bis zu drei Tagen.


Zitat: Buchtitel des gleichnamigen Buchs, hrsg. von Franz Herberth und Jürgen Maurer, Verlag Brandes & Apsel  


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