Paul wünscht sich lieber ein Nintendo 3 DS XL in Pink mit 600 Spielen |
In den letzten Jahren habe ich mich beim Denken an die Gepflogenheiten der Kindererziehung gelegentlich selbst an die Zügel nehmen müssen, da ich spürte, dass die political correctness Gefahr lief, von meinem Denken verlassen zu werden. Es geht um meine Gedanken, wenn ich irgendwo Kinder beobachten darf, vorzugsweise in Gesellschaft ihrer Eltern, vor allem ihrer Mütter. Das waren dann zum Beispiel Gedanken daran, dass ich froh bin, die Generation der heute Geborenen später nicht mehr selbst therapieren zu müssen; wenn diese Generation erwachsen ist beziehungsweise ein Alter erreicht hat, in dem man erwachsen sein sollte, würde ich mich nämlich im Rentenstand befinden und dann auf dringliche Therapiewunschanfragen antworten, leider geht´s nicht, ich bin zu alt. Ich würde zu alt sein in vielfacher Hinsicht: körperlich, weil eventuell zu tatterig und mnestisch nicht mehr auf der vollen Höhe; formal, weil nicht mehr im Beruf stehend; und außerdem innerlich, weil ich zu wenig verstünde von den Jungen und aufgrund dessen vorzugsweise dauernd den Kopf schütteln würde – keine gute Basis für eine therapeutische Beziehung.
Natürlich vollzieht sich das Auseinanderklaffen des Zeitgeists nicht in Sprüngen; es verläuft schleichend, und manche Vorboten beobachte ich bereits jetzt an meinen erwachsenen Patienten, an meinen Kollegen und an mir selbst. Zum Beispiel vermehren sich derzeit Begriffe, bei denen ich innerlich aufjaule wie etwa das ubiquitäre Spaß haben, was besonders häufig im Kontext von getroffener oder noch zu treffender Berufswahl geäußert wird und dann meistens in verneinten Aussagen untergebracht wird: Also, wenn man morgens bis abends in einem Büro wäre, oder einen Job mit festen Arbeitszeiten hätte, oder überhaupt einen Job, dass man dann auf Dauer keinen Spaß hätte. Ein weiteres Wort, mit dem ich auf alterndem Kriegsfuß stehe, ist das infantil prononcierte Gucken. Dahinter verbirgt sich so eine passiv-abwartende Haltung, mit der man sich selbst als Baby stilisiert, das etwas unbedarft und erfahrungsfrei in die Welt blickt, um zu erkunden, was es da so alles gibt. Sind diese Gucker und Guckerinnen dann zufällig auch noch in einem therapeutischen Beruf tätig, kommen methodisch zweifelhafte Geistesprodukte psychotherapeutischer Behandlungskonzeptionen heraus wie zum Beispiel: „Ich hab´ da im ersten Teil der Therapie noch nicht so recht gewusst, wie das zu verstehen ist, ich wollte da erst mal gucken.“ Es war mir gar nicht klar, dass Hypothesen auch vom Himmel regnen können und man nur lange genug warten muss! Die Guckversion gibt es auch bei Patienten; wenn du mit ihnen an irgendwas arbeitest seit Monaten, und dann kommt sie, die Bewährungsprobe in der Realität, und du fragst feierlich, wie sie es angehen wollen, dann sagen sie manchmal, dich fast strafend anblickend, als seist du ein Drängler auf der linken Fahrspur der Autobahn, „mal gucken, das lasse ich erst mal auf mich zukommen“. Die Guckvokabel scheint sowohl in nord- als auch süddeutschen Gefilden beheimatet zu sein und drückt ganz offensichtlich den Versuch aus, sich nicht als Erwachsener ansprechen lassen zu müssen, sondern als unschuldiges und von persönlicher Verantwortung befreites Kind.
Die nicht nur sprachlich, sondern auch in der Mode sowie im Freizeitverhalten sich zeigende Infantilisierung gelingt am einfachsten, wenn Mann oder Frau sie im Namen des eigenen Kindes pflegen und sich hinter selbigem verstecken können. Wenn Phillipp in der Öffentlichkeit rumtobt, schreit bis alle gucken (sic!), Faxen macht und Tischdecken herunterreißt, dann ist zu hören Phillipp mag noch spielen und Freiraum haben und das heißt dann übersetzt, dass seine gestressten Eltern mal gerne spielen und mehr Freiraum haben würden. Dieser, von anderen anwesenden Erwachsenen eher als selbstvergessene Rücksichtslosigkeit empfundene „Freiraum“ des wenig bis gar nicht erzogenen Kindes wird dann von den Eltern mit moralinsaurem Blick verteidigt, sollte er zufällig sich abendlich in einem eleganten Restaurant, während der Pause einer – freilich von den Eltern extra für´s Kind ausgewählten - Theatervorführung oder auf einer Beerdigungsfeier abspielen.
Darüber zu lamentieren ist ein menschlicher, aber sicherlich wenig therapeutischer Ansatz. Es ist wichtig zu versuchen, dieses Phänomen zu verstehen. Die Härten des modernen Berufslebens beinhalten Anforderungen, die sich beinahe stündlich höher schrauben hinsichtlich Schnelligkeit, Effizienz und Professionalität. So wird an vielen Arbeitsplätzen kaum noch Platz zu basaler zwischenmenschlicher Kommunikation gelassen, sondern er dient als offene Bühne für die erzwungene Selbstvermarktung des einzelnen, die dem Diktat des Wachstums und des Profits geschuldet ist. All dieser Druck zu optimaler Performance, medial getriggert und ins Freizeitverhalten diffundierend, lässt offenbar eine tiefe Sehnsucht nach dem Behalten der Kindlichkeit entstehen. In Form einer altruistischen Abtretung soll dann wenigstens für die Kinder ein anderer Codex gelten. Der Codex einer frustrationsbefreiten Kindheit, die vor allem gekennzeichnet ist durch die unhinterfragte, beinahe zwanghafte Bedienung einer oralnarzisstischen Dauerhaltung, wobei holprige Wege geebnet, Wünsche erfüllt und Anstrengungen vermieden werden. Die Liste der stöhnenden, erschöpften Mütter, der angenervten, aber schweigenden Väter (man will doch kein harter, herzloser Mann sein) ist lang: wie sie sich abmühen, dass Justus vom Training abgeholt wird, weil er sonst 20 Minuten auf den Bus warten müsste, dass Laura einen wunderschönen Geburtstag hat und Mia einen ganz tollen Einschulungstag und Finn zum 5. Geburtstag eine Waldschnitzeljagd, die er nicht vergessen wird, und dass Weihnachten für das Kind super schön sein soll und dass doch beim nächsten Sommerfest alle Freunde von Lisa und nicht nur die wichtigsten Freunde dabei sein sollen und der Tisch super süß geschmückt mit Luftballons, die im Dreivierteltakt platzen, und am Ende tritt noch ein Clown auf.
Alles soll stimmen für´s Kind. Bloß die Stimmung, die macht dann doch manchmal den ernüchternden Strich durch die märchenhafte Rechnung. Und dann sitzen sie da, 15 Jahre später, mit einer sogenannten depressiven Episode, und sagen, sie wissen nicht, was sie machen sollen, das gewählte Studienfach sei vielleicht doch nicht das richtige, aber sie waren auch schon lange nicht mehr im Hörsaal; am Morgen belohnen sie sich erstmal nach dem Aufstehen für´s Aufstehen und gehen einen Latte macchiato trinken und spielen dann eine Stunde im Netz ein Rollenspiel und gucken danach erstmal, was die 139 Freunde so machen.
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