f Psychogeplauder: Gewagte Orakel (Religion)

Donnerstag, 5. Juni 2014

Gewagte Orakel (Religion)




Maria erwartet am Dienstag
die Meinung des Chefarztes


                                                                



Trotz aller Rationalität und Aufklärung lässt sich in unserer abendländischen Kultur ein ungebrochenes Bedürfnis nach Magie finden.
Obgleich diese Mentalität schon längst auch in den urbanen Milieus, bei Angestellten oder Beamten, anzutreffen ist, kannst du sie bei der Landbevölkerung noch besonders leicht und unverstellt, quasi aus erster Hand, finden. So gibt es in Deutschland vereinzelte Landstriche, die soziokulturell noch sehr in sich abgeschlossen sind, so wie zum Beispiel im Kraichgau, in entlegenen Eckchen der Lüneburger Heide oder auch in einigen Tälern Bayerns; in den Inhalten nahe an einer – nicht gefällig fernöstlich gewandeten, sondern sehr archaisch gewachsenen – esoterischen Lehre gelegen, blüht dort auch besonders der Aberglaube, eigentlich von der Kirche verpönt, und gerade deshalb in zahlreichen mündlichen Überlieferungen, die zuvorderst der ordentlichen Erziehung der Kinder dienen, seit vielen Generationen versteckt konserviert.
Wenn du als Therapeut tätig bist, kommst du, je nach geographischer Position, gelegentlich mit wundersamen Ausprägungen einer bestimmten Art von gelebtem Christentum in Berührung, die dich schmunzeln, fluchen (!), neugierig werden oder befremdet die Schultern hochziehen lässt. In manchen Gegenden, hinter unauffälligen Mauern ansprechend hergerichteter Häuser, wird sogar Exorzismus betrieben, und das bei Leuten, von denen du dachtest, sie seien statistisch betrachtet Normalos wie du und ich. Einige Patienten erzählen dir das irgendwann sogar, sagen wir, in der 40. Sitzung, so scheinbar beiläufig, und testen dich mit einem unauffälligen Zeitlupenblick während ihrer Ausführungen, ob du ihnen a) überhaupt folgen kannst und sie b) sich bei dir diskretionstechnisch sicher fühlen können.
Mein Urerlebnis mit solchen Formen des Denkens hatte ich vor vielen Jahren, am Anfang meiner praktischen Tätigkeit, in einer psychiatrischen Klinik. Damals konnten Patienten mit Depressionen noch je nach Verlauf ihrer Beschwerden sehr lange stationär behandelt werden, ohne dass man einen literarisch ausgefeilten Briefwechsel mit der Krankenkasse pflegen musste oder die Patienten als kränker deklarieren musste, als sie in Wirklichkeit waren. Maria, eine damals etwa 65 jährige einfache, von einem Bauernhof stammende Frau, von der ich hier berichten möchte, brauchte wirklich sehr lange zum Gesundwerden. Sie kam aus Niederbayern und war schon seit vielen Wochen stationär in einem Mehrbettzimmer untergebracht. Jeden Dienstag war Chefvisite, da saßen die Patienten immer sorgsam angezogen und erwartungsvoll auf dem Bettrand und hofften, dass der angekündigte Tross, bestehend aus Klinikchef, Oberarzt, Stationsärztin, Stationsleitung, Bezugsschwester, Musiktherapeut, Sozialarbeiterin und Psychologin, pünktlich auftauchte, damit das meistens schon unter hellgrünen Plastikhauben auf dem Gang schwitzende Mittagessen nicht kalt wurde. Maria und ihre Bettnachbarinnen hatten kulinarisch betrachtet oft Pech, denn wir sparten uns dieses Zimmer meistens bis zum Schluss auf, weil es so anstrengend war, dort reinzugehen. Das lag an Maria. Sie hatte eine Krankheit, deren Existenz mir bis dato unbekannt war, eine Jammerdepression. So nannte das der Chef, und er schien mir einer der letzten Psychiater zu sein, die es erlaubten, mit schönen deutschen Worten Psychiatriediagnosen zu verteilen und die gelegentlich daraus erwachsenden blumigen phäno-menologischen Umschreibungen auch direkt so in die Krankenakte einzutragen. Von Zahlenkolonnen, erbsenzählerischen Schweregradeinteilungen und Anglizismen hielt er nichts. Patienten mit Jammerdepressionen sind kommunikative Sonderfälle, denn obwohl depressiv, reden sie viel und was sie sagen, hört sich nervenaufreibend an, man will raus und im Stationszimmer einen Kaffee trinken und dabei gemeinsam mit den Kollegen rhythmisch mit den Augen rollen, selbsthilfegruppenmäßig halt, um alles zu verdauen. Daher schoben wir den Gang in Marias Zimmer gerne vor uns her und besuchten erst die anderen. Es hatte sich längst herumgesprochen an jenem Dienstag, dass es Maria seit zwei bis drei Wochen besser ging. Aber noch niemand hatte es ihr gesagt. Wir hatten uns bei ihr den optimistischen Betreuungsjargon abgewöhnt, da Maria jegliche aufmunternde Bemerkung zum Beispiel zum nachmittäglichen Besuch ihrer Tochter, zum hübschen neuen rosa Bademantel, zu den herrlichen Sommerblumen da draussen, zur Aussicht auf die erste Wochenend-beurlaubung als unsäglich lästige Plattitüden zurückwies, den naiv-bemühten Dialogpartner mit messerscharfen Returns trocken abwürgte und betonte, dass alles schlecht sei. Sie war eine schmächtige kleine Person, nicht schwach, eher drahtig wirkend, und saß an jenem denkwürdigen Dienstag wie immer auf dem Bettrand, die Beine baumelten herunter in braunen sich von selbst in Falten legenden Wollstrümpfen, von denen ich nicht weiß, wo man sowas heutzutage noch kaufen kann. Nachdem die Bettnachbarinnen fertig visitiert waren, trat die gesamte Staff drei Meter weiter und wir postierten uns tapfer um Marias Bett, bereit für die letzte Station unseres Kreuzweges an jenem Vormittag. Zunächst die üblichen Chefarztfragen, unterbrochen durch den Oberarzt, der die Fragen für Maria noch ein bisschen verbraucherfreundlich runterbrach und ins Bayerische übersetzte. Medikamentendosis anpassen, sind die Probleme mit dem Wasserlassen besser, wie war der Schlaf letzte Woche, hat sie die Gestaltungstherapie besucht. Im Grunde waren wir schon auf unseren geordneten Rückzug und einen kräftespendenden Augenrollkaffee eingestellt; es war zunehmend stickig im Raum, und es war heiß. Das Ritual schien zu enden wie immer; der gefühlte Abspann des Films lief schon über die letzten Bilder, es fehlte nur noch die Klappe. Aber irgendwas war noch. Es lag was in der Luft. Eine eigenartige unheimliche Ruhe setzte sich fest. Der Chefarzt blickte auf seine Schuhspitzen, mit denen er nach einer endlos sich hinziehenden Minute zu wippen begann. Du hättest Marias Leberzellen bei der Arbeit zuhören können, so totenstill war es. Dann nahm er seine Brille ab und blickte Maria direkt an. Und sagte das Unsägliche. „Wir haben den Eindruck, dass es ihnen ein klein wenig besser geht“. Jetzt war es raus. Die Bombe war gezündet und es gab kein Zurück. Die Stationsschwester wurde blass. Einige Staffmitglieder guckten an die Wand. Ich dachte, jetzt am besten Ohren zuklappen, und schwankte zwischen Bewunderung meines Chefs und Mitleid mit ihm. Kurz schien auch Maria selbst angenockt. Doch dann ging Leben durch ihren Körper. Ein Vitalitätstsunami durchzog sie, sie rutschte vom Bettrand und fuhr in derselben Bewegung blitzschnell in ihre braunen Pantoffeln. Sie baute sich erregt vor dem Chef auf, die Hände in die Hüften gestemmt, eine ca 1.55 m große Frau, die auf Augenhöhe zu ihm wirkte. Sie holte Luft, nahm die Hände nach oben wie diese kurz vor Spielanpfiff auf dem Platz betenden muslimischen Fussballer, und rief mit lauter Stimme, die um eine halbe Oktave nach oben verschoben war: Värschrrain sies nett, värrschrain sies nett! (Für den dieser Sprache nur teilkundigen Leser: „Verschreien sie es nicht, verschreien sie es nicht!“).

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