Maria erwartet am Dienstag die Meinung des Chefarztes |
Trotz aller Rationalität und
Aufklärung lässt sich in unserer abendländischen Kultur ein ungebrochenes
Bedürfnis nach Magie finden.
Obgleich diese Mentalität schon längst auch in den urbanen Milieus, bei Angestellten oder Beamten, anzutreffen ist, kannst du sie bei der Landbevölkerung noch besonders leicht und unverstellt, quasi aus erster Hand, finden. So gibt es in Deutschland vereinzelte Landstriche, die soziokulturell noch sehr in sich abgeschlossen sind, so wie zum Beispiel im Kraichgau, in entlegenen Eckchen der Lüneburger Heide oder auch in einigen Tälern Bayerns; in den Inhalten nahe an einer – nicht gefällig fernöstlich gewandeten, sondern sehr archaisch gewachsenen – esoterischen Lehre gelegen, blüht dort auch besonders der Aberglaube, eigentlich von der Kirche verpönt, und gerade deshalb in zahlreichen mündlichen Überlieferungen, die zuvorderst der ordentlichen Erziehung der Kinder dienen, seit vielen Generationen versteckt konserviert.
Obgleich diese Mentalität schon längst auch in den urbanen Milieus, bei Angestellten oder Beamten, anzutreffen ist, kannst du sie bei der Landbevölkerung noch besonders leicht und unverstellt, quasi aus erster Hand, finden. So gibt es in Deutschland vereinzelte Landstriche, die soziokulturell noch sehr in sich abgeschlossen sind, so wie zum Beispiel im Kraichgau, in entlegenen Eckchen der Lüneburger Heide oder auch in einigen Tälern Bayerns; in den Inhalten nahe an einer – nicht gefällig fernöstlich gewandeten, sondern sehr archaisch gewachsenen – esoterischen Lehre gelegen, blüht dort auch besonders der Aberglaube, eigentlich von der Kirche verpönt, und gerade deshalb in zahlreichen mündlichen Überlieferungen, die zuvorderst der ordentlichen Erziehung der Kinder dienen, seit vielen Generationen versteckt konserviert.
Wenn du als Therapeut tätig
bist, kommst du, je nach geographischer Position, gelegentlich mit wundersamen
Ausprägungen einer bestimmten Art von gelebtem Christentum in Berührung, die
dich schmunzeln, fluchen (!), neugierig werden oder befremdet die Schultern hochziehen
lässt. In manchen Gegenden, hinter unauffälligen Mauern ansprechend
hergerichteter Häuser, wird sogar Exorzismus betrieben, und das bei Leuten, von
denen du dachtest, sie seien statistisch betrachtet Normalos wie du und ich.
Einige Patienten erzählen dir das irgendwann sogar, sagen wir, in der 40.
Sitzung, so scheinbar beiläufig, und testen dich mit einem unauffälligen Zeitlupenblick
während ihrer Ausführungen, ob du ihnen a) überhaupt folgen kannst und sie b)
sich bei dir diskretionstechnisch sicher fühlen können.
Mein Urerlebnis mit solchen
Formen des Denkens hatte ich vor vielen Jahren, am Anfang meiner praktischen
Tätigkeit, in einer psychiatrischen Klinik. Damals konnten Patienten mit
Depressionen noch je nach Verlauf ihrer Beschwerden sehr lange stationär
behandelt werden, ohne dass man einen literarisch ausgefeilten Briefwechsel mit
der Krankenkasse pflegen musste oder die Patienten als kränker deklarieren
musste, als sie in Wirklichkeit waren. Maria, eine damals etwa 65 jährige
einfache, von einem Bauernhof stammende Frau, von der ich hier berichten
möchte, brauchte wirklich sehr lange zum Gesundwerden. Sie kam aus Niederbayern
und war schon seit vielen Wochen stationär in einem Mehrbettzimmer
untergebracht. Jeden Dienstag war Chefvisite, da saßen die Patienten immer sorgsam
angezogen und erwartungsvoll auf dem Bettrand und hofften, dass der
angekündigte Tross, bestehend aus Klinikchef, Oberarzt, Stationsärztin,
Stationsleitung, Bezugsschwester, Musiktherapeut, Sozialarbeiterin und
Psychologin, pünktlich auftauchte, damit das meistens schon unter hellgrünen
Plastikhauben auf dem Gang schwitzende Mittagessen nicht kalt wurde. Maria und
ihre Bettnachbarinnen hatten kulinarisch betrachtet oft Pech, denn wir sparten
uns dieses Zimmer meistens bis zum Schluss auf, weil es so anstrengend war,
dort reinzugehen. Das lag an Maria. Sie hatte eine Krankheit, deren Existenz
mir bis dato unbekannt war, eine Jammerdepression.
So nannte das der Chef, und er schien mir einer der letzten Psychiater zu sein,
die es erlaubten, mit schönen deutschen Worten Psychiatriediagnosen zu
verteilen und die gelegentlich daraus erwachsenden blumigen phäno-menologischen
Umschreibungen auch direkt so in die Krankenakte einzutragen. Von
Zahlenkolonnen, erbsenzählerischen Schweregradeinteilungen und Anglizismen hielt er nichts.
Patienten mit Jammerdepressionen sind kommunikative Sonderfälle, denn obwohl
depressiv, reden sie viel und was sie sagen, hört sich nervenaufreibend an, man
will raus und im Stationszimmer einen Kaffee trinken und dabei gemeinsam mit
den Kollegen rhythmisch mit den Augen rollen, selbsthilfegruppenmäßig halt, um
alles zu verdauen. Daher schoben wir den Gang in Marias Zimmer gerne vor uns
her und besuchten erst die anderen. Es hatte sich längst herumgesprochen an
jenem Dienstag, dass es Maria seit zwei bis drei Wochen besser ging. Aber noch
niemand hatte es ihr gesagt. Wir hatten uns bei ihr den optimistischen
Betreuungsjargon abgewöhnt, da Maria jegliche aufmunternde Bemerkung zum
Beispiel zum nachmittäglichen Besuch ihrer Tochter, zum hübschen neuen rosa
Bademantel, zu den herrlichen Sommerblumen da draussen, zur Aussicht auf die
erste Wochenend-beurlaubung als unsäglich lästige Plattitüden zurückwies, den naiv-bemühten
Dialogpartner mit messerscharfen Returns trocken abwürgte und betonte, dass
alles schlecht sei. Sie war eine schmächtige kleine Person, nicht schwach, eher
drahtig wirkend, und saß an jenem denkwürdigen Dienstag wie immer auf dem
Bettrand, die Beine baumelten herunter in braunen sich von selbst in Falten
legenden Wollstrümpfen, von denen ich nicht weiß, wo man sowas heutzutage noch kaufen
kann. Nachdem die Bettnachbarinnen fertig visitiert waren, trat die gesamte
Staff drei Meter weiter und wir postierten uns tapfer um Marias Bett, bereit
für die letzte Station unseres Kreuzweges an jenem Vormittag. Zunächst die
üblichen Chefarztfragen, unterbrochen durch den Oberarzt, der die Fragen für
Maria noch ein bisschen verbraucherfreundlich runterbrach und ins Bayerische
übersetzte. Medikamentendosis anpassen, sind die Probleme mit dem Wasserlassen
besser, wie war der Schlaf letzte Woche, hat sie die Gestaltungstherapie
besucht. Im Grunde waren wir schon auf unseren geordneten Rückzug und einen
kräftespendenden Augenrollkaffee eingestellt; es war zunehmend stickig im Raum,
und es war heiß. Das Ritual schien zu enden wie immer; der gefühlte Abspann des
Films lief schon über die letzten Bilder, es fehlte nur noch die Klappe. Aber
irgendwas war noch. Es lag was in der Luft. Eine eigenartige unheimliche Ruhe setzte
sich fest. Der Chefarzt blickte auf seine Schuhspitzen, mit denen er nach einer
endlos sich hinziehenden Minute zu wippen begann. Du hättest Marias Leberzellen
bei der Arbeit zuhören können, so totenstill war es. Dann nahm er seine Brille
ab und blickte Maria direkt an. Und sagte das Unsägliche. „Wir haben den
Eindruck, dass es ihnen ein klein wenig besser geht“. Jetzt war es raus. Die Bombe
war gezündet und es gab kein Zurück. Die Stationsschwester wurde blass. Einige
Staffmitglieder guckten an die Wand. Ich dachte, jetzt am besten Ohren
zuklappen, und schwankte zwischen Bewunderung meines Chefs und Mitleid mit ihm.
Kurz schien auch Maria selbst angenockt. Doch dann ging Leben durch ihren
Körper. Ein Vitalitätstsunami durchzog sie, sie rutschte vom Bettrand und fuhr in
derselben Bewegung blitzschnell in ihre braunen Pantoffeln. Sie baute sich
erregt vor dem Chef auf, die Hände in die Hüften gestemmt, eine ca 1.55 m große
Frau, die auf Augenhöhe zu ihm wirkte. Sie holte Luft, nahm die Hände nach oben
wie diese kurz vor Spielanpfiff auf dem Platz betenden muslimischen Fussballer,
und rief mit lauter Stimme, die um eine halbe Oktave nach oben verschoben war: Värschrrain sies nett, värrschrain sies nett! (Für den dieser Sprache nur teilkundigen Leser: „Verschreien sie es
nicht, verschreien sie es nicht!“).
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