f Psychogeplauder: U-Bahn fahren

Donnerstag, 26. Juni 2014

U-Bahn fahren


Bei den Wurzeln
des verworrenen Lebens




Unser zwiespältig verehrter Siegmund FREUD unterschied ja gemeines von neurotischem Elend. Die damalige Sprache bezeichnete als gemein, was allgemein, also im Sinne widriger Lebensumstände
bei mehreren Menschen verbreitet (etwa im Sinne des englischen common) und für einen Psychoanalytiker nicht besonders erwähnenswert war. Und Sigismund meinte auch, dass die Psychotherapie nur für den neurotischen Teil des Elends zuständig sei – das gemeine Unglück dagegen sei nicht durch seine Redekur behandelbar, wenngleich, wie er versprach, vielleicht wenigstens besser auszuhalten. Wenn Du also einen Vollidioten als Chef hast, eine Million Schulden durch spekulative Immobilienkäufe schulterst oder eine total entstellende Brille trägst, wird sich das durch Psychotherapie nicht wirklich ändern.

Das mit dem gemeinen Elend hing ihm ja ein bisschen an. Nicht jeder kann nur griechisch-dänische Prinzessinnen behandeln, berühmte Komponisten, reiche Männer aus Amerika oder wenigstens deren Gattinnen; solcher Leute gemeines Unglück konnte damals darin bestehen, dass sie sich jedes Jahr erneut der Qual der Wahl stellen mussten, fahren wir im Winter ins Tessin oder doch lieber an die Cote d´azur? Und ist altrosa Seide für das neue Nachmittagskleid noch en vogue ? Heute soll die Therapie allen gesellschaftlichen Schichten zugänglich sein, und das tut sie auch. Neurotisches Elend gibt es schliesslich überall und ist mit einem dicken Geldbeutel oder einem Professorentitel nicht weniger effektiv zu vermeiden als mit Arbeitslosigkeit und einem regelmäßig zuschlagenden erwachsenen Sohn.

Wenn Du aber in so einer Schleife hängst, die Freud gemein nannte, dann ist es gar nicht so einfach, mit Psychotherapie da herauszukommen. Melanie zum Beispiel kam wegen Übelkeit, Schwindel, Kaufsucht, Schlafstörungen und Heulkrämpfen. Sie hatte eine derartig bizarre Kindheit hinter sich, dass du nur weglaufen oder den Bericht darüber meistbietend an die Bildzeitung verkaufen kannst. Da lagen die Goldfische vertrocknet im Kühlschrank und hinter dem Sofa fanden sich Dinge, über die ich hier schweige. Die elterliche Wohnung war in einem Mietshaus einer sozialen Genossenschaft gelegen.  Im Treppenhaus hatte sie, als kleines Mädchen vom Schulbesuch kommend, des öfteren ihre betrunkene, dafür nackte Mutter aufgabeln und in die Wohnung bugsieren müssen. Es war dann jedes mal spannend, ob und wenn ja, welcher Mann dort anzutreffen war. Melanie ist, nach Durchleben sogenannter schlechter Kreise,  zweier Abtreibungen, Drogenexperimenten und mehrjähriger Privatinsolvenz dort in diesem Haus hängengeblieben, zwar immerhin einen Stock höher, aber nicht wirklich mit mehr Perspektiven ausser einem etwas besseren Ausblick, da man jetzt über die Mülltonnen schauen konnte. Ihrer Vorliebe für dunkelhäutige gutaussehende Männer, die anders waren als ihr nationalsozialistisch gesinnter Vater, verdankte sie ihr erstes Kind, eine milchkaffeefarbene, zuweilen mangels Betreuungsmöglichkeit auch in meiner Praxis mitauftauchende Kinderschönheit, deren Vater Soldat war und später ohne Geld und Adresse verschollen. Dennoch schaffte sie es mit ihrer Intelligenz und ihrem Wunsch, herauszukommen aus dem gemeinen Elend, mit über 30 noch eine umfassende Ausbildung zu machen an einer Schule,  deren Schüler oft gescheiter als die Lehrer waren, aber trotzdem häufig  abbrachen oder irgendwie versackten. Melanie hielt durch, beherrschte mittlerweile mehrere Sprachen, aber eine Stelle bekam sie, nachdem das Milchkaffeemädchen eingeschult war, trotzdem nicht. Sie bewarb sich für fast alles, am Ende blieb es immer wieder bei Absagen. Sie betonte, dass sie sich auch für ARTE und 3SAT interessiere, hatte allerdings die Angewohnheit, bis tief in die Nacht den Fernsehapparat laufen lassen, um irgendwann berieselt einzuschlafen, ein Relikt aus Zeiten, als ihre wechselnden Männer sie in tiefer Nacht aus dem Schlaf rissen, mit dubiosen Freunden anrückten, die eine Bleibe über Nacht benötigten, und bei ihr eine Art Dunkelheitsangst hinterliessen. Melanie war Face-book – Dauerbesucherin, vor allem um auf dem Laufenden zu bleiben, ob ihre jeweils neue Flamme vergeben war oder nicht. Die extrem klamme Finanzlage wurde durch kleinere Bauchtanzaufträge und Schwarz – Putzen - Gehen im besten Viertel unserer Stadt einigermaßen erträglich.  Zu mancher Sitzung bei mir ist sie ohne Fahrschein gefahren, da sie kein Geld hatte. Endlich gab man ihr einen Job in einem Büro, das ähnlich eines call-centers für Kundenreklamationen zuständig war. Sie arbeitete dort acht Stunden täglich und ihre Tochter musste irgendwie sehen, wer sie wo und wielange betreute. Melanies alleinlebender Vater, ein einbeiniger frühberenteter Griesgram, der über die Regierung schimpfte und nicht in der Lage war, Kinder zu hüten, sondern den ganzen Tag rauchend über seinem 70er Jahre-Wohnzimmertisch brütete, sprang in äußersten Notfällen ein. Ich freute mich über ihren späten Berufseinstieg und dachte, jetzt hat sie´s geschafft, und jetzt wird sie auch mal einen Mann kennenlernen, der irgendwie brauchbar ist; der Staat musste, wegen des geringen Lohns, zwar noch Geld zuschiessen, aber sie hatte eine Struktur und entwickelte sogar Ehrgeiz, nicht – wie ihre frustrierten Kolleginnen – Montags blau zu machen, zu spät zu kommen oder schlechte Arbeit abzuliefern. 
Mehrere Jahre später kam sie wieder. Sie wollte mir, glaube ich, diesmal eigentlich nur mitteilen, dass sie ihr Leben ändern wolle. Die Würfel schienen gefallen, ich wurde nur als Zuhörer gebraucht. Sie habe sich ausgerechnet, dass sie mit einem zweiten Kind und all den ihr dann zustehenden Zuschüssen besser leben könne als jetzt, bei der Arbeit schikaniert, abends völlig fertig und immer noch finanziell abhängig vom Sozialamt. Und dieses Kind trage sie schon in ihrem Bauch. Diesmal hatte sie sich einen gutaussehenden Dunkelhäutigen ausgesucht.  Das nennt man Wieder-holungszwang. Wenn sie Vater unbekannt angebe, seien die Unterhaltszahlungen am sichersten, da die dann das Amt übernehme. Sie habe sogar Anspruch auf neue Küchenstühle. Sie sei sich darüber im Klaren, dass sie vermutlich nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurückkehren könne, wenn das zweite Kind aus dem Gröbsten raus sei; aber das nehme sie in Kauf. 
Melanie hatte während der ersten Therapie immer wieder U-Bahnträume gehabt. Sie fuhr und fuhr, meistens im Dunklen, es wurde manchmal heller, wenn eine Station erreicht wurde, es zischte und bremste, sie fuhr kreuz und quer. Zuerst dachten wir daran, dass das mit der U-Bahn wohl ihr Unterbewusstsein  bedeute. Und dass sich da viel abspiele. Zur Differenzierung dieser noch wenig weiterbringenden These überlegten wir auch, ob das Rein- und Rausfahren langer Züge in Stationsbahnhöfe wohl … wir wollen ja Freud zu Ehren kommen lassen – etwas mit ihren sexuellen Wünschen und one-night-stands zu tun habe. Im Nachhinein sehe ich das aber anders. Die U-Bahn bedeutete vor allem, dass sie ein Leben im unteren Stock führte, aus dem es kein Entrinnen gab. Unten gab es alles, Geschäfte, Kioske, Menschen, Graffitis, Kontakte, sogar versiffte Toiletten. Aber das Leben oben hatte sie nie gesehen. Und, ich fürchte, mit noch soviel Therapie wird sie doch immer wieder U-Bahn fahren müssen. Wenn du drinhängst, hängst du drin. Ihren Beschwerden, die immer wieder auftraten, hatte die Therapie im Grunde nichts entgegensetzen können, dennoch war Melanie eine treue und anhängliche Patientin, obwohl sie häufig nicht meiner Meinung war.  Ein tieftrauriges Gedicht von Hugo von Hoffmannsthal kommt mir in den Sinn, das so beginnt:

Manche  freilich  müssen  drunten  sterben,
Wo  die  schweren  Ruder  der  Schiffe  streifen,
Andre  wohnen  bei  dem  Steuer  droben,
Kennen  Vogelflug  und  die  Länder  der  Sterne.

Manche  liegen  immer  mit  schweren  Gliedern
Bei  den  Wurzeln  des  verworrenen  Lebens,
Andern  sind  die  Stühle  gerichtet
Bei  den  Sibyllen,  den  Königinnen,
Und  da  sitzen  sie  wie  zu  Hause,
Leichten  Hauptes  und  leichter  Hände.

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