f Psychogeplauder: Schmerzensschreie

Freitag, 12. Juni 2015

Schmerzensschreie


Motiv  aus:
Edvard  MUNCH  "Der  Schrei"

(ca. 119  Millionen US - Dollar  wert)



Heute nimmt Margarethe wacker, unverblümt und ohne Furcht Stellung zu gesundheitspolitischen Fehlentwicklungen. Es ist zum Wimmern, um nicht zu sagen zum Schreien.
Lieber Herr Bundesgesundheitsminister Gröhe, wenn Sie dies zufällig von einem Ihrer Staatssekretäre zugespielt bekommen, lassen Sie die Sache komplett auf sich wirken, sie hat sich wirklich zugetragen, ich musste nur einige Daten vertauschen, um mich vor Mord-drohungen sogenannter engagierter Ärzte oder ganzheitlicher Klinikverwaltungschefs zu schützen. 

Erzählt mir doch vor wenigen Tagen eine Frau, die ich vor fast zwanzig Jahren länger wegen Schmerzen psychotherapeutisch behandelt hatte, folgende Odyssee durch den Irr- und Wirrgarten unserer modernen dienstleisterisch zur Weltspitze gehörenden Medizin: sie habe sich gar nicht getraut, bei mir anzurufen. Denn eigentlich habe sie zur Spezialambulanz X gehen sollen, in der Nachbarstadt. Und sie habe sich dann nur deswegen getraut, doch mal bei mir anzurufen, weil die dort in der Spezialambulanz gesagt hätten, sie müsse 5 Monate warten auf den nächsten Therapieplatz und sie brauche es woanders gar nicht probieren, schneller unterzukommen, das sei „überall so“, und weil sie außerdem kein Auto habe und die Fahrten zur Spezialambulanz, auf Dauer,  ziemlich stressig werden würden, habe sie gedacht, sie könne ja wenigstens einmal bei mir vorsprechen und meine Meinung einholen. Sie solle allerdings gar nicht so eine Therapiemethode, wie ich sie anböte, erhalten, sondern eben die andere, in der Spezialambulanz. Die Patientin atmet hörbar, sitzt vorne auf der Stuhlkante, hat offenbar immer noch das Büßergewand an, sie ist undercover bei mir, angespannt, aber auch erleichtert, dass es mich nach so vielen Jahren noch unausgebrannt gibt. Ich sage, also, Frau Wikiwaki, jetzt setzen sie sich mal richtig entspannt hin, lassen die Rückenlehne des Stuhls ihre Arbeit tun, und erzählen sie doch bitte mal von vorne. 

Wikiwaki, die attraktiv gealtert und mittlerweile etwa Mitte 50 ist, ist eine immer noch sehr anziehende, sympathische Frau, vielleicht manchmal ein bisschen zu freundlich, die wegen starker Schmerz- und Schwindel-beschwerden damals bei mir eine Psychotherapie gemacht hatte. Sie hatte einiges erreicht, vor allem, dass sie nicht mehr dachte, die Schmerzen seien Ausdruck irgendeiner Körperkrankheit. Es zwickte und zwackte war noch, aber der Schwindel war weggegangen und sie war mit dem Ergebnis der Behandlung zufrieden gewesen. Sie hatte sogar, nach langjährigem Hausfrauendasein, da ihr rechtsdrehender langzeitarbeitsloser Ehemann der Meinung war, deutsche Frauen gehörten nicht in unübersichtliche Büros, sondern nach hause in den Gesichtskreis ihres Mannes, zum Ende der Therapie eine angestellte Tätigkeit gefunden, viel Anerkennung und Selbst-bewusstsein hierüber getankt und, ich staunte nicht schlecht, sich Jahre nach Therapieende tatsächlich vom AFD wählenden Superhero, der mittlerweile vom Staat als Frührentner verbucht wurde, getrennt. Als vor etwa zwei Jahren, zunächst nur im Rücken, starke Schmerzen aufgetreten seien, habe sie versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Hausarzt habe sie krankschreiben wollen, sie müssen mal raus, aber da hat sie sich erfolgreich dagegen entschieden, zumal auf der Couch abzuhängen, wie Wikiwaki im Gegensatz zum Hausarzt wusste, den Rücken nicht stärkt, sondern schwächt. Der Hausarzt hängte sich aber, nachdem er die Zurückweisung seiner wunderheilerischen Dienste ohne größeres Trauma verarbeitet hatte, trotzdem rein, und sagte zu ihr ich gehe für sie bis zum Bundessozialgericht!, um zum Ausdruck zu bringen, dass er ihr, wie auch ihrem bereits beglückten Exehemann, die Rente gönnen würde. Da sie auf dem Rentenohr taub war,  er andererseits nicht so viel Zeit für eine über zwei Sätze hinausgehende Anamnese hatte, schickte er sie stattdessen zunächst zur Abklärung zum Neurologen C, der aber, nach bildgebender Diagnostik, nichts Akutes fand, und einige Monate später dann doch mal zur Sicherheit in die neurologische Klinik Y, da sie aus früheren Zeiten mehrere Bandscheibenvorfälle zu beklagen hatte. Dort ließ sie sich nach zweieinhalb Tagen vorzeitig wieder entlassen, weil sie selbst erkannt hatte, dass nichts Organisches gefunden wurde, im Gegenzug für ihren vorzeitigen Entlassungswunsch hatte sie sich endlich bereit erklärt, trotz entsprechender Furcht davor, eine Lumbalpunktion machen zu lassen. Dies auf Druck ihrer Bettnachbarin, die sie darüber aufklärte, es sei völlig egal, weswegen man hier sei, alle bekommen am ersten Tag eine Lumbalpunktion. Der Hausarzt, an den sie sich wieder wandte, und dem sie ihre zunehmende Verzweiflung schilderte, da sie vor lauter Schmerzen nicht mehr fahrradfahren könne, sagte, es muss jetzt endlich was geschehen, und empfahl ihr die Schmerzambulanz A, großes Kino, Schmerzkonferenz, viele Fragebögen, Pillen und Spritzen, aber Wikiwaki hatte eine (meiner Meinung nach seelisch bedingte) „totale Unverträglichkeit“ und „reagierte unheimlich stark“ auf die angebotenen, ich sag´s ungern, teilweise abhängig machenden Wundermittel, die oft in Bahnhofsnähe in Großstädten vertickt werden, und brachte stattdessen den Assistenzarzt auf die Idee, es könnte doch vielleicht so ähnlich sein wie damals, vor 20 Jahren, als sie deswegen mal eine Psychotherapie gemacht habe. Das muss den Halbgott beeindruckt haben, er überwies sie zur Nervenärztin B. Da hatte sie zwar gar nicht hingewollt, aber man tut ja alles. Zumal jetzt die Schmerzen sich zusätzlich übelst im Leistenbereich nach unten zogen in Gegenden, die irgendwie entfernt an Frausein erinnern; die Nervenärztin meinte, nachdem diverse Untersuchungen wie EEG, EMG, VEP zur Überprüfung der Befunde des früheren Neurologen C abgearbeitet waren, und die danach ausprobierten dortigen Pillen bei Wikiwaki Blutdruckprobleme und ansonsten Wirkungslosigkeit verursachten, da muss jetzt aber mal was geschehen, und empfahl ihr wärmstens, in die Schmerzklinik D zu gehen, da würde sie mal gründlich durchgecheckt und dann eingestellt, und außerdem kenne sie den dortigen Leiter. Wikiwaki hob schüchtern an zu sagen, das sei bei ihr möglicherweise ja psychosomatisch, und die Nervenärztin sagte, genau, deshalb wäre sie in der Schmerzklinik richtig, die würden nämlich ganzheitlich therapieren und sie, Wikiwaki, müsse mal aus allem raus. Seufzend machte das Wikiwaki, zumal das Wort "Durchchecken" ihr in die nach wie vor schmerzenden Glieder gefahren war, galt es also etwa doch, etwaige körperliche Störungen noch näher zu untersuchen? Als Wikiwaki ängstlich in der Klinik ankam, erhielt sie als erstes ein ausführliches Arztgespräch, das war mal gut, alles der Reihe nach zu berichten und zu sortieren, wer was wann zu der Schmerzsache schon gesagt und getan hatte, und dann wurden Medikamente angesetzt. Die Frage nach dem ganzheitlichen Dingsbums unterdrückte sie, denn sie fand es nicht angebracht, zumal ja immerhin Yogakurse angeboten wurden, die allerdings so überlaufen waren, dass die Luft dick wurde und vor allem die männlichen, zu 90 Prozent erheblich übergewichtigen Patienten immer gleich einschliefen und laut schnarchten. Wikiwaki machte zwar seit vielen Jahren selber Yoga. Jeden morgen und jeden Abend zehn Minuten, aber was soll´s, dachte sie sich, vielleicht war das hier ja Schmerzspezialganzheitsyoga. Am vierten Tag waren sämtliche angesetzten Medikamente wieder abgesetzt, bei der Chefvisite fuhr sie ein blondgelockter Beau an, „sie passen hier nicht rein, wir rufen einen Psychiater“. Was als Drohung klingen sollte, wurde für Wikiwaki zur langweiligen Wiederholung. Als sie in der Mittagspause auf dem Bett lag und sich von den Nebenwirkungen der Schmerzmittel erholte, war sie eingenickt, und da rückte er an, stellte sich nicht vor, sagte bloß, so, hier soll ich ein Konsil machen, und setzte sich ungefragt neben sie auf´s Bett. Er fragte nach ihrem Namen und sagte, ach, so wie sie heißen, sehen sie aber gar nicht aus. Der Satz hatte Wikiwaki beschäftigt, ohne dass sie seine kryptische Botschaft, selbst mehrmonatig noch im Inneren hin- und herbewegt, hatte verstehen können, ansonsten gab´s einen Vortrag, sie sei hier in der Klinik falsch, das sei bei ihr psychisch. Aha, da waren wir eigentlich schon mal, lieber Herr Gröhe, lesen Sie trotzdem noch weiter?, aber die Möglichkeiten der Medizin waren da gottlob noch nicht erschöpft. Nach fünf Tagen entlassen, weil psychisch, ging sie wieder zur Nervenärztin und die sagte, ja, vielleicht wäre es gut, wenn sie mal in der psychiatrischen Klinikambulanz E vorsprechen würde. Die hätten da viel Erfahrung und die hätten da noch weitere Angebote und außerdem kenne sie den Leiter der Tagesklinik. Wikiwaki, die froh war, eine Ärztin zu haben, die so viele Leiter kennt, und die außerdem erleichtert war, nach einer Woche Klinik sich wieder bei ihrer Arbeit blicken lassen zu können, die sie wenigstens halbwegs von ihren Schmerzen ablenken konnte, ging zu dem Leiter F zum Orientierungsgespräch. Das Orien-tierungsgespräch entpuppte sich mißver-ständlicherweise als Aufnahmegespräch für vier Wochen psychiatrische Tagesklinik. Denn der Leiter meinte, da müsse jetzt aber mal was passieren. Dort hatte man sofort einen Platz frei und ja, sie könne natürlich noch zuhause ein paar Sachen holen. Selbstverständlich werde sie für die Zeit krank geschrieben. Mittlerweile sich durchaus selbst durchgedreht fühlend, wurde Wikiwaki dann von sehr netten Ärzten, sehr netten Mitpatienten und sehr netten Krankenschwestern, sehr netten Psycho-loginnen und sehr netten Sozialarbeitern umgeben und lernte Achtsamsein, Selbstbewusstseinstraining in Rollenspielen, wie man in einen Schuhladen reingeht, vier Modelle anprobiert und dann ohne zu kaufen wieder raus, außerdem gab es Seidenmalerei und Genusstraining und sie tauschte Adressen mit den anderen aus, um sich nach Ende der Behandlung mal wieder privat zu treffen. Wikiwaki, endlich auf den Geschmack gekommen, bat noch erfolgreich um eine Woche Verlängerung. Alle anderen hätten sich nach der Tagesklinikzeit noch für weitere zwei Wochen krankschreiben lassen, das gehört zur langsamen Akklimatisierung, aber Wikiwaki wollte lieber gleich wieder loslegen und sie sei aus diesem Grunde schon seit einigen Tagen wieder im Büro. Am schlimmsten waren die Wochenenden, also dann, wenn sie frei hatte, da war sie einsam und, wie sie mir gestand, sehnte sie sich nach einem Partner. Ich sage nur, Ziehen im Leistenbereich, aber weder ihr noch mir hört ja irgendjemand zu. 

Ich vereinbarte mit Wikiwaki, dass sie es ja mal versuchen könne bei mir, und wenn sie einen großen Hut trüge, sei sie beim Betreten des Gebäudes quasi nicht zu erkennen. Und wenn Wikiwaki nun eine, aufgrund mittlerweile eingetretener Chronifizierung, Langzeit-Psychotherapie bei mir absolviert, ist das in Anbetracht der aufgezählten sonstigen bisherigen medizinischen Höchstleistungen eher so was wie ein Schnäppchen für die Solidargemeinschaft, finanziell betrachtet; ich brauche auch gar keine Körperbefunde zum sicheren Ausschluss eines Ganzkörpertumors mehr einzuholen, wie praktisch, denn das systematische Abgrasen der medizinischen Versorgungskette ist bei keiner Krankheit so schön geregelt wie beim Schmerz. Da fällt mir ein, ich habe ganz vergessen, dass Wikiwaki auch noch bei zwei Orthopäden gewesen war, von denen der eine ihr Akupunktur-behandlungen auf Privatrechnung anbot und irgendwas mit pulsierenden Apparaten, aber ich finde, die Story ist jetzt schon zum Schreien, und ich will auf keinen Fall, dass Minister Gröhe kurz vorm Schluss doch noch aufgrund von Übelkeit bei der Lektüre aussteigt.

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