f Psychogeplauder: Schuldpakete

Dienstag, 2. Juni 2015

Schuldpakete




Feinstoffliche  Ablichtung  einer  Therapieraumecke  mit  Hilfe
der  sog.  Kirlian-Photographie



Nein, kein Beitrag zur Eurobonds-Griechenland-Debatte. Jedenfalls nicht direkt. Obwohl, vielleicht lässt sich das Thema mühelos auch politisch …
aber ich überlasse das deiner Abstraktionsgabe. Wir wollen uns heute der Essenz eines jeden psychotherapeutischen Ansatzes widmen, nämlich den Eltern. Ihr Verhalten bildet die Grundlage für die Neurosen ihrer Nachfolger, sie geben den Startschuss für die frühkindliche Entwicklung, sie fungieren als Modell, als auslösender und aufrechterhaltender Psychofaktor: wir möchten also im folgenden das Zentrum aller seelischen Prägungen herausstellen, quasi des Pudels Kern. Da fällt mir ein, bei Goethe war letzteres der Teufel. 
Und teuflisch sind sie ja auch, lässt man mal die Romantik des Wunschkindes beiseite, das von allen erwartet, geliebt und gefördert wurde und zum 18. Geburtstag vom zu Tränen gerührten Elternpaar seine ersten Kinderschuhe (gehäkelt!) geschenkt bekommt, die, in Seidenpapier gehüllt, auf dem Rücksitz eines nagelneuen roten Mini-Cooper Cabriolets liegen. In der harten Wirklichkeit sind die Mütter meistens schon während der Schwangerschaft sehr belastet und mit dem Kopf nicht ganz beim wehrlosen Embryo gewesen, weil gerade die Großmutter starb, der Ehemann eine Affäre hatte oder das neugegründete Küchenstudio rote Zahlen schrieb. Die Geburt war erstaunlich schwer, für beide, die Mutter hatte unsägliche Schmerzen und opferte sich und lange hing´s am seidenen Faden, ob beide es überleben würden oder nur einer den matchpoint macht. Was gemeinerweise bei jedem Kindergeburtstag zwischen Erdbeertorte und Kartoffelsalat erneut erzählt wurde; mit Ausnahme des 63. Geburtstags des armen Kindes, denn da war die halbdemente Mutter wegen Beckenringbruchs gottlob mal außer Haus. Nach der Geburt waren die meisten Mütter auch nicht besser; sie schoben Depressionen, konnten sich nicht ins Kind einfühlen, betrachteten es entweder als ihr Eigentum oder nahmen es innerlich erst gar nicht an, weil es aussah wie der Schwiegervater nach drei Obstlern. Sie waren zuwenig zärtlich, verursachten deswegen beim Baby eine psychogene Neurodermitis, sie setzten das kleine unschuldige Wesen, als es erste Schrittchen machte, dauernd mit Ermahnungen unter Druck („Du machst alles kaputt“! „Pass´auf das Parkett auf!“) und betrachteten es als Selbstobjekt, sie spiegelten sich dauernd drin, fuhren es mit einem hausmilbenverseuchten Kinderwagen bei der früheren Arbeitsstätte, der sie gottlob dank der Schwangerschaft hatten entfliehen können, vor wie das neueste Porsche-Modell bei der Automesse in Mailand; später unterbanden sie unverdrossen auch die weitere Autonomieentwicklung und reagierten, also jetzt wird es wirklich kriminell,  mit Liebesentzug, wenn das wehrlose Kind, das wir spätestens an dieser Stelle im Grunde schon als späteren Patienten titulieren können, sich triangulieren und andere Götter neben der Mutter haben wollte (Pippi Langstrumpf, Justin Bieber, gelegentlich auch, obgleich meistens unverdient, den eigenen Vater). In der Pubertät setzten sie keine Grenzen und verweigerten eine konstruktive Auseinandersetzung, weil sie gerade auf ihr 20jähriges Abitreffen konzentriert waren und ihre ersten Falten; und in der Adoleszenz halfen die selbst unbewusst nach Aufbruch drängenden egoistischen midlife-crisis-gebeutelten Mütter dem mittlerweile als Neurosenträger zu bezeichnenden Wesen in keiner Weise dabei, sich vom heimischen Nest elegant abzulösen. Sie brachten es fertig, das komplette Kinderzimmer eine Woche nach Auszug des Kindes in einen Raum für sich selbst zu verwandeln, ohne sich im geringsten Gedanken zu machen, wie brutal es für das Kind ist, wenn es nachhause kommt und dort, wo es früher schlief, „Peterchens Mondfahrt“ las und „Tokyo Hotel“ mit halbkaputten Kopfhörern hörte, eine bescheuerte Pfaff-Nähmaschine, meterweise Ernährungsbücher (Glutenallergie, Histaminintoleranz, veganes Glück) und einen billigen Zweitfernseher für Ehekrachabende vorzufinden. Die Väter sind nicht besser. Mit einer außergewöhnlichen Regelmäßigkeit waren sie selten da, kamen erst spät nachhause und waren entweder ruhig oder besoffen. Sie arbeiteten viel und das Kind konnte nur wenig Beziehung aufbauen und als einmal die Versetzung gefährdet war, da setzte es eine Ansprache des Bundespräsidenten.

Das Dumme ist nur, die Eltern, diese pädagogischen Vollpfosten, kommen ja nicht zur Therapie. Sondern das Ex-Kind. Also versucht man, mit dem Ex-Kind zu verstehen, wie es soweit kommen konnte, dass es dreimal täglich Rein-Raus-Anfälle (um die übliche despektierliche Bezeichnung Fress-Kotz zu vermeiden) hat, Depressionen mit Phantasien von der eigenen Beerdigung schildert oder morgendliches Bauchweh an Werktagen beklagt. Da beginnt sie, die unheilvolle Suche nach den Schuldigen. Andererseits – an den eigenen Gedanken, Einstellungen und Verhaltensschemata kann ja wiederum nur das Ex-Kind arbeiten. Hatte es allerdings eine faule Mutter, dann war sie kein anregendes Identifikationsobjekt und das Kind ist aufgrund dieses und eines sich eventuell darüberlagernden Genschicksals ebenfalls zu faul, um an sich zu arbeiten. Es ist wirklich ungeheuer kompliziert. Und wer ist schuld, wenn die Therapie nicht fruchtet? Die Eltern des Patienten, der Patient, die Krankenkasse oder … jetzt wird es brenzlig, aber es muss aus Gerechtigkeitsgründen in Betracht gezogen werden… der Therapeut? Manchmal, wenn die Schuldzuweisungen an die Eltern das Ausmaß von Riesenmelonen annehmen, dann versuche ich, das weinerliche parent-blaming dezent zu unterbinden und den Patienten auf die bis dahin für ihn abwegige Idee zu bringen, seine eigenen Schwächen zu beleuchten. Schwerstarbeit. Psychotherapeuten haben oft ausgesprochen rauhe, schwielenbedeckte Hände; diese anatomisch-ästhetische Entstellung soll demnächst als Berufskrankheit anerkannt werden und stellt eine Folge chronischen Hin-und-Her-Geschiebes von Schuld innerhalb der therapeutischen Sitzungen dar. Da wird geschwitzt und manchmal, wenn´s allzu anstrengend wird, sogar grobmotorisch mit den Füssen nach diesen riesigen Schuldpaketen getreten, da die Erschöpfung in den Armen gelegentlich zur Pause zwingt. 
Und die Patienten? Sie beschwören mich entweder gleich zu Therapiebeginn: „Aber ich will auf keinen Fall meine Eltern / meinen Mann / meine Tochter hier schlecht machen“. Oder sie verfallen ins Gegenteil und verhaken sich im unergründlichen Meer der vertrackten, versemmelten Erziehungsjahre, der groben Fehltritte ihrer Bezugspersonen, und ersehnen es von ihnen, das eine Wort, das ihre Seele gesund machen soll, welches eigentlich Gott vorbehalten ist, aber der reagiert ja nie.

Die augenscheinlichen Fehler, aber auch die subtilen Eigenheiten der elterlichen Erziehung: im Therapieraum werden sie alle wieder lebendig. Und weh dir, du verpasst den heiligen, kurzen Augenblick, in dem es diese Vorgänge zur Erkenntnis zu nutzen anstatt zu verurteilen gilt.

Ich will ja nicht angeben mit der Delikatheit des professionellen Therapeutenauftrages: aber hast du schon mal dran gedacht, dass Eltern unter Umständen selbst Doofheimer als Eltern hatten und dass die Patienten ihrerseits gelegentlich auch schon Eltern sind und alles, was man besser machen könnte, klammheimlich verschweigen, so dass schon wieder neue Pakete geschnürt werden. Es ist zum wimmern. In meinem nächsten Leben werde ich Schuldenberater. Da kann man wenigstens, wenn es zu kompliziert wird, die Insolvenz anmelden und den ewigen Kreislauf mit einem einzigen beherzten gordischen Schlag durch den Knoten beenden. In der Schule habe ich gelernt, dass Alexander der Große den Knoten durch einen energischen Schwerthieb durchtrennt habe. Erst viel später hatte ich tatsächliches Interesse an der Story und schaute sie mir eigenmotiviert nochmal an, internetfundiert; demnach hat´s Alexander durch kluges Nachdenken gelöst und viel eleganter als mittels Umsichschlagen.

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