f Psychogeplauder: Alles muss raus!

Samstag, 18. Juli 2015

Alles muss raus!




Was auf den ersten Blick wie ein Sonderposten billigen, schon lange vor seinem Verramschungszeitpunkt eher minderwertig einzustufenden Materials aussieht, ist meistens auf den zweiten Blick
ein Sonderposten billigen, schon lange vor seinem Verramschungszeitpunkt eher minderwertig einzustufenden Materials. Selbst auf den dritten Blick ist da keine Tiefendynamik drin. Die Österreicher nennen es Abverkauf, und diese Vokabel finde ich ehrlicher, denn es geht weniger um was Besonderes, sondern das Zeug soll vor allem eins: weg.


Die psychotherapeutischen Vorgehensweisen, methodischen Schwerpunkte und Techniken haben sich, warum auch nicht, seit FREUDs Anfängen im Laufe der Jahrzehnte immer wieder gewandelt. Das wird manchmal vor allem der Psychoanalyse vorgeworfen: dass ja FREUD in dem und jenen Punkt veraltet sei oder in dieser und jener Annahme geirrt habe – als sei es ein Zeichen von Qualitätsmangel oder, schlimmer noch, schamloser Scharlatanerie, wenn sich 100 Jahre später eine Behandlungsmethode stark verändert hat. Ich jedenfalls möchte nicht im Falle einer Radiusköpfchenfraktur auf die traditionelle Weise wie vor 100 Jahren behandelt werden – ohne dass dies für mich zugleich bedeuten würde, die heutige Unfallchirurgie sei als Fachgebiet nur ein nutzloses Überbleibsel unsinniger Fehlannahmen und daher obsolet.

Aber trotzdem kann man, vor allem im wohlig-übersichtlichen Rückblick des historischen Urteils, nicht umhin, manche Auswüchse der Therapietechniken heutzutage etwas zu belächeln. Da war zum Beispiel diese encounter-Bewegung, die Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erst nordamerikanische und später dann europäische psychotherapeutische Räumlich-keiten überzog wie eine biblische Plage; es wurde gefühlt, geweint und geschnieft, Mut gemacht und getrauert, geschrien und geschüttelt, Hand und Augenkontakt gehalten, was das Zeug hielt. Hauptsache Gefühle. In solchen Gruppen stand in der Mitte des absolut gerecht angeordneten Stuhlkreises eine Kleenexpackung und derjenige, der gerade dran war mit Fühlen, bekam von einem anderen, zumeist seinem Fühlvorgänger, mit einem gemütswärmend-empathischen Fußtritt die Packung vor seinen Stuhl gekickt, um sich die Tränen der Wut, des Zornes, der Scham und des Schmerzes abzuwischen. Man hielt zusammen. Du, lass´ es  raus, ich bin da! 
Wie es halt so ist, bleibt immer irgendwas hängen. Und aus den Siebzigern ist hängen geblieben, dass man alles rauslassen soll, was drückt, kneift, zieht oder sonstwie stört. Dagegen ist ja nichts zu sagen (jedenfalls kann man gar nichts dagegen sagen, ohne dass man Gefahr liefe, sich als zwanghafter schmallippiger Oberlehrertyp zu outen), doch leider verhalten sich manche Menschen heutzutage im Alltag so, als befänden sie sich chronisch in einer encounter-Gruppe. Sie sind sozusagen im Dauer-Ehrlichkeits-Abonnement befindlich. Und da hört der Spaß dann auf. Frage ich einen Patienten, welche positiven Eigenschaften er bei sich selbst wahrnehme, so höre ich manchmal: „Ich bin ehrlich!“ Das sagen bevorzugt jene Patienten von sich, die mit ihrer Umwelt Probleme haben, wobei, aus ihrer Sicht, ihre Umwelt Probleme mit ihnen hat, da diese die Wahrheit nicht erträgt. „Ich sage alles ehrlich, so wie es ist!“ verkünden sie stolz, und es ist dann gar nicht so einfach, diese scheinbar unantastbare Menschheitstugend genauer und – vor allem – kritischer unter die Lupe zu nehmen.

Die absolute Ehrlichkeit mancher Menschen ist eher eine Form verbalisierter Zumutung. Mir ist aufgefallen, dass die selbsternannten Ehrlichkeitstypen besonders gerne über den Schatten anderer Leute springen. Ihre Äußerungen verfügen über eine inhaltliche Schlagseite zugunsten ihrer Attitüde, anderen etwas Kritisches vor den Latz zu knallen, wenn sie sich mental oder emotional gestört fühlen. Im Gegenzug bezeichnen sich Leute, die besonders freundlich kommunizieren, anderen Wertschätzung oder gar Komplimente zukommen lassen und eher das Positive im Gegenüber konnotieren, nicht als ehrlich, eher als bemühte Positivseher. Wie du spätestens jetzt ahnst, bin ich den Ehrlichen nicht so arg gut gewogen; das hat letztendlich auch berufliche Gründe. Sitzt ein Ehrlicher als Patient im Therapieraum, dann ist das Ehrlichkeitsgebot leider selten symmetrisch aufgeteilt; würde ich als Behandler also was ehrliches sagen und damit Kritik äußern, dann ist der Patient üblicherweise gar nicht hart im Nehmen. Auch außerhalb des Therapieraumes trifft man als Therapeut manchmal auf Ehrlichkeitsfanatiker; zum Beispiel bei beruflichen Treffen, und da geht es zwischen Mitgliedern einunddesselben Vereins gelegentlich so unbeholfen axtschwenkend einher, dass man sich fragt, ob es sich bei den Akteuren wirklich um ausgebildete Therapeuten handelt. Da werden Kränkungen von Kollegen in Kauf genommen, jeder sagt, was er denkt, anstatt zwischenmenschliche kommunikative basics zu pflegen. Jedoch, so höre ich schon die imaginative Gegenrede,  die Psychoanalyse sei doch mit einem „aufklärerischen Auftrag“ behaftet und brauche das offene Wort! Doch meiner Ansicht nach kann man auch aufklären, ohne dabei in die Waden zu beißen. Mein Rat an dieser Stelle: nehmt einfach die Zähne mehr auseinander.

Bei den Journalisten hat sich die unbedingte Liebe zum echten großen Gefühl schon lange eingeschlichen; und da ständig irgendwer irgendein Gefühl rauslässt, muss nachgefragt werden, wie stark die Emotion sei; aus Zeitspargründen wurde das avisierte Gefühl bereits vorformuliert, so wie diese aus Osteuropa stammenden Teiglinge in unseren Bäckereien einfach nur noch fertig gebacken werden müssen vor Ort, um so etwas wie Originalität inmitten der weltumspannenden Mehl- pardon ! - Gefühlssuppe zu erhaschen. Herr Bundespräsident, wie schön ist es für sie, wiedergewählt worden zu sein? Herr Zugreisender, wie nervig ist es, dass die Bahn streikt? Und Frau Bundestrainerin, wie stolz sind sie auf ihre Frauenmannschaft nach diesem Erfolg? Alle Befragten antworten voll ehrlich und lassen es einfach raus: mega, super, unglaublich, das Größte im Leben, „unheimlich wichtig“, „total nervig“ .„wahnsinnig stolz“. Da fehlen oft die Worte, erkennbar an den endlos durchgeschleiften Begriffen wie megageil und Hammer, und zwar wirklich der Hammer!

Sind wir seit dem viktorianischen Zeitalter tatsächlich näher an unsere Gefühle rangekommen als früher – und wenn ja, warum müssen die immer raus?  Beim Abverkauf geht es ja darum, dass das Zeug keiner mehr will und die Lager sonst überquellen. Die Gelegenheit ist günstig. Ziemlich billig, das Ganze.

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