Tagebucheintrag vom 15.12.1969 |
Sebastiano gehörte eigentlich zur ganz harten Küsschen & Prosecco – Fraktion und wenn der Auftritt stimmte und die Frisur saß, war das für ihn und seinesgleichen stets die halbe Miete. Unerwarteterweise verdanke ich ihm
Als wir
einmal darüber sprachen, wie er einen typischen Tag verbringe, klärte er mich
darüber auf, dass es im deutschen Kulturraum ein grundsätzliches,
folgenschweres und in seiner gesamten Tragweite sozusagen tragisches Missverständnis
gebe, welches auf einem Übersetzungsfehler beruhe; das lateinische Carpe diem bedeute nicht „Nutze den Tag“, wie man
dies etwa durch frühes Aufstehen erreichen könne (Morgenstund´ hat Gold im
Mund…), durch straffes Zeitmanagment und Wäsche aufhängen (ein zeichnerischer
Einfall, den vor eintausend gefühlten Jahren eine Schulkameradin in meinem
Posiealbum künstlerisch kondensierte als Illustration zum pädagogisch
wohlmeinenden Satz : „Nutze den Tag!" - Dank an Ricarda). In Wirklichkeit
müsse man das carpe diem durch „Erhasche den Tag“, „Ergreife
den Augenblick“, „Erkenne die Schönheit des Moments“, „Nehme die
Möglichkeiten des Hier und Jetzt wahr“ übersetzen. Sebastiano schwelgte in
sprachlichen Möglichkeiten. Die Italiener hätten es im Gegensatz zu den
Deutschen, wie so vieles, kapiert. Dort heiße der geflügelte Satz nicht „Nutze
den Tag“, sondern „Pflücke den Tag“ – cogli
l´ attimo.
Wenn
Sebastiano zur Sitzung kam, kündigte sich dies erstens durch ein herrliches
Vibrieren seiner macchina an, die er unten direkt vorm Eingang abstellte –
nicht etwa auf der für Fahr- und Motorräder vorgesehenen seitlichen
unspektakulären Abstellfläche. Zweitens war es dann in der Regel schon zehn
oder fünfzehn Minuten später als vereinbart. Dann wusste ich, er hatte an
diesem Vormittag schon viele Augenblicke gepflückt; ein Zeichen, daß es
ihm gut ging. An Tagen, an denen er pünktlich war, war er ganz tief unten.
Sebastianos Zuspätkommen habe ich nie interpretiert, kommentiert oder gar
gerügt. Ich weiß auch nicht, warum. Wahrscheinlich liess mich meine
erwartungsvolle Neugier auf eine versteckte Lektion in philosophischer
Lebenshilfe so angenehm locker werden. La
disinvoltura ist überhaupt
das Wichtigste. Du musst schon offen sein, wenn Du Augenblicke pflücken möchtest.
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