f Psychogeplauder: Carpe diem

Sonntag, 5. Januar 2014

Carpe diem




Tagebucheintrag  vom  15.12.1969



Sebastiano gehörte eigentlich zur ganz harten Küsschen & Prosecco – Fraktion und wenn der Auftritt stimmte und die Frisur saß, war das für ihn und seinesgleichen stets die halbe Miete. Unerwarteterweise verdanke ich ihm
tiefgründige Einsichten, die mich noch lange nach unserer gemeinsamen Besprechungszeit nachhaltig beschäftigten. Sebastianos Leidensthema waren, wie vermutlich bei allen Halbitalienern, die Frauen. Aber manchmal, zwischendurch  und nicht planbar, liess er mich an seinen – übrigens ureigenen, nicht etwa aus coffee-table-Büchern entliehenen – philosophischen Überlegungen teilnehmen. Du musst ihn Dir vorstellen wie einen echten figlio di papa, was ungefähr soviel bedeutet,  wie ein großen, nicht ganz aktuellen Wagen zu fahren, dessen Versicherung Papi bezahlt wegen der günstigeren Beitragsklasse; es implizierte allerdings auch, daß Papi im familiären Handwerksbetrieb den Daumen auf allem hatte und Sebastiano, immerhin Anfang 30, im Grunde nichts zu sagen. Das wäre nicht so schlimm für ihn gewesen, war doch das Übernehmen von Verantwortung ohnehin nicht sein liebstes Hobby; aber wenn es um Design ging, um den ästhetischen Aspekt der väterlichen Produkte und deren werbende Plazierung, da konnte er empfindlich werden. Ihm grauste es vor geschmacklich durchschnittlichen, spießigen oder zufällig statt mit Bedacht inszenierten Auftritten.
Als wir einmal darüber sprachen, wie er einen typischen Tag verbringe, klärte er mich darüber auf, dass es im deutschen Kulturraum ein grundsätzliches, folgenschweres und in seiner gesamten Tragweite sozusagen tragisches Missverständnis gebe, welches auf einem Übersetzungsfehler beruhe; das lateinische Carpe diem bedeute nicht „Nutze den Tag“, wie man dies etwa durch frühes Aufstehen erreichen könne (Morgenstund´ hat Gold im Mund…), durch straffes Zeitmanagment und Wäsche aufhängen (ein zeichnerischer Einfall, den vor eintausend gefühlten Jahren eine Schulkameradin in meinem Posiealbum künstlerisch kondensierte als Illustration zum pädagogisch wohlmeinenden Satz : „Nutze den Tag!" - Dank an Ricarda). In Wirklichkeit müsse man das carpe diem durch „Erhasche den Tag“, „Ergreife den Augenblick“,  „Erkenne die Schönheit des Moments“, „Nehme die Möglichkeiten des Hier und Jetzt wahr“ übersetzen. Sebastiano schwelgte in sprachlichen Möglichkeiten. Die Italiener hätten es im Gegensatz zu den Deutschen, wie so vieles, kapiert. Dort heiße der geflügelte Satz nicht „Nutze den Tag“, sondern „Pflücke den Tag“  – cogli l´  attimo.
Wenn Sebastiano zur Sitzung kam, kündigte sich dies erstens durch ein herrliches Vibrieren seiner macchina an, die er unten direkt vorm Eingang abstellte – nicht etwa auf der für Fahr- und Motorräder vorgesehenen seitlichen unspektakulären Abstellfläche. Zweitens war es dann in der Regel schon zehn oder fünfzehn Minuten später als vereinbart. Dann wusste ich, er hatte an diesem Vormittag schon viele Augenblicke gepflückt;  ein Zeichen, daß es ihm gut ging. An Tagen, an denen er pünktlich war, war er ganz tief unten. Sebastianos Zuspätkommen habe ich nie interpretiert, kommentiert oder gar gerügt. Ich weiß auch nicht, warum. Wahrscheinlich liess mich meine erwartungsvolle Neugier auf eine versteckte Lektion in philosophischer Lebenshilfe so angenehm locker werden. La disinvoltura ist überhaupt das Wichtigste. Du musst schon offen sein, wenn Du Augenblicke pflücken möchtest.

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