f Psychogeplauder: Reiches Land

Samstag, 4. Januar 2014

Reiches Land






Als Esterela zum ersten Gespräch kam, hatte sie ihren Überweisungsschein vergessen. "Wieso, braucht man das?". Ich las ihre Versicherungskarte in meinen PC ein und die Software bot mir den gewissensschmeichelnden Begriff 
Sozialversicherungsabkommen an. Ich klickte auf enter und fühlte mich kurz als guter Mensch. Während ich die Karte aus dem Lesegerät herauszog, sagte Esterela in einem unendlich langgezogenen, spöttischen Ton: "Ihr Deutschen - ein reiches Land". Ich erinnere mich genau an jenen kurzen, durch drei, vier notwendige Schritte vorgegebenen Moment auf dem Wege, ihr die Karte zurückzugeben, in dem ich überlegte, Esterela rauszuschmeißen. Stattdessen beschloß ich, das Ganze professionell zu lösen, machte "Sitz !" und eröffnete das Gespräch mit der Frage, wie sie das denn meine. Esterela war Portugiesin, sprach trotz mehrjährigen Deutschunterrichts in der Schule mit einem auffallend geringen Wortschatz und deutlichem Akzent und wenn sie gerade das geeignete Wort nicht fand, streute sie es englisch ein, was ihrer Art sich auszudrücken in Verbindung mit dem häufigen, aus dem englischen gewohnten und irrtümlich mir dargebotenen "du" statt "sie", etwas Herablassendes verlieh. Sie war kein ohnmächtig nach Deutschland gespültes Strandgut der ihr Heimatland besonders stark beutelnden Wirtschaftskrise des Euroraumes, sondern eine geschickte Trittbrettfahrerin. Geschickt von ihren Eltern, die ihrer fast 30jährigen jüngsten Tochter monatelang in den Ohren gelegen hatten, dass sie etwas ändern müsse, nicht mehr länger zuhause im Kinderzimmer herumhängen solle und endlich arbeiten; es müsse sich etwas tun, und das gehe am besten in Deutschland. Esterela hatte ihrer Hausärztin, einer verständnisvollen, ganzheitlich agierenden Allgemeinärztin, anvertraut, daß sie in den vergangenen Januarwochen mehrere Tage lang im Bett geblieben und nicht mehr aus ihrer Einzimmer-Sozialwohnung gegangen sei. Daraufhin wurde sie mit der Diagnose einer schweren  Depression zu einer ebenfalls sehr verständnisvollen und ebenfalls ganzheitlich arbeitenden Psychiaterin überwiesen, wo ihr ein Antidepressivum verschrieben und dringend eine Psychotherapie empfohlen worden war. So fand Esterela den Weg zu mir, lies das Antidepressivum ohne Rücksprache nach wenigen Tagen wieder weg, blieb aber dafür eine treue Patientin mit wöchentlichen Sitzungen. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt ein Dreivierteljahr in Deutschland und hatte im Vorfeld einen Job in einem Biomarkt, in einer Studentenkneipe und einem Büro versucht, aber jeweils nach wenigen Tagen befunden, daß das nichts für sie sei. Sie war sehr christlich gesprägt und betonte, sie wolle etwas Sinnvolles tun und nicht irgendetwas, nur um Geld zu verdienen. In Portugal hatte sie ein abgeschlossenes Musikstudium und danach noch eine Büroausbildung absolviert. Ich überlegte und grübelte immer angestrengter, was zu Esterela passen würde. Einmal hatte ich die Idee, sie darauf aufmerksam machen, daß es im Nachbarort eine sehr nette portugiesische Kneipe gäbe, die auch tagsüber gut besucht sei und deren stets gutgelauntes Personal mir auch portugiesisch erscheine. Manuela kannte die Kneipe schon und meinte, dort sei es ihr zu dunkel, sie brauche interessante Menschen, viel Licht und Farben. Auch die Agentur für Arbeit zeigte Verständnis für ihre Wünsche. Einmal wurde sie sogar ausgewählt für ein dreimonatiges Motivationstraining.  Ich war erleichtert - da ich es in vielen Sitzungen weder geschafft hatte, Esterela zum Arbeiten zu ermutigen, noch ihre mir etwas störrisch erscheinende Art, "Erwartungsdruck" zu beklagen, unter Zuhilfenahme meines beruflichen Handwerkszeuges zu analysieren; sie hatte wochenlang halbtägige Seminare mit Einzelbetreuung und Begabungsfindung, es wurden Zeichnungen und mindmaps angefertigt, geistige Merksätze verfasst und anerkennende, wertschätzende Rückmeldungen gegeben, kombiniert mit Gruppensitzungen zum Austausch mit anderen Betroffenen. Ihren Coach nannte sie bald nur noch beim Vornamen. Man schlug ihr vor, in einem sozialen Kunstprojekt mitzuarbeiten. Doch hätte das bedeutet, dass sie einen Teil des Entgelds hätte abgeben müssen, da sie ja Sozialleistungen bezog. Dann schlug man vor, sie könne sich doch einmal darum kümmern, ihre Anerkennungen und Zeugnisse aus Portugal aus der Zeit ihres Studiums und ihrer Ausbildung ins Deutsche übersetzen zu lassen. Es gebe z.B. die Möglichkeit, in der Erwachsenenbildung damit zu arbeiten, gerne auch zweisprachig. Allerdings brauche sie dafür einen Berechtigungsschein, der Geld koste. Esterela zog es nach mehrmonatiger Bedenkzeit vor, in der Nachbarschaftshilfe zu arbeiten. Dort wurde sie wöchentlich eingeteilt, für einige Stunden für ältere Menschen zu putzen und einzukaufen. Oft wurde ihr Trinkgeld zugesteckt. Von ihrem so verdienten Geld kaufte sie sich schliesslich einen DVD Player. Dank ihm fühlte sie sich, zusammen mit Laptop, Monatskarte für die örtlichen Verkehrsbetriebe, Fahrrad, das ihr in der christlichen Gemeinde jemand gespendet hatte, und Handy nun gut ausgestattet. Ihre Großmutter schickte ihr einmal Geld zum Geburtstag, wofür Esterela sich, auf Anraten eines Priesters aus ihrer Heimat, der ihr regelmäßige email - Beratung gewährte, aufmachte, ihr Äußeres zu verändern (damit du dich besser selbst akzeptieren kannst) und für sage und schreibe 150 Euro in eine neue Frisur und Haarfarbe investierte. Als nach etwa zwei Monaten der Schnitt zunehmend herauswuchs und die alte Farbe sich wie ein mahnender ernüchternder Geist der Vergangenheit breit machte, sah Esterela immer mehr aus wie eine jener Zimmerpflanzen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Pflege mehr erhalten und deren neue kärgliche Triebe wie absterbende, zur Spitze hin grauverfärbte Irrtümer der Natur dahindorrten. Esterela sprach immer öfters von der christlichen Gemeinde, die sie hier gefunden und in der sie "frühstücken" und Musik auflegen könne. Dort wurde auch gemeinsam gegessen, Feste gefeiert und soziale ehrenamtliche Marktstände organisiert, wo man immer mal vorbeikommen und etwas kostenlos essen oder trinken konnte. Sie knüpfte Kontakte, das freute mich und ich verbuchte es sehnsüchtig, wenngleich halbherzig als Therapieerfolg. Sie erzählte, dass es Kneipen gebe, in denen man ohne Getränkebestellung über die Runden käme, wenn man zu gewissen Stoßzeiten zum Großbildlein-wandfernsehen komme. Nur einen Mann lernte sie nicht kennen. Sie berichtete, wer wen in ihrer Umgebung kennengelernt habe. Einige weibliche Mitglieder ihrer Gemeinde waren auf diese Weise plötzlich nach Amerika ausgewandert oder hatten angekündigt, dies demnächst mit ihrem neuen Mann zu tun. Sie klagte, die Männer in ihrer Umgebung, im christlichen Chor, in der Gemeinde, in der Nachbarschaftshilfe, in der Agentur für Arbeit, die seien alle visionslos. Überhaupt wolle sie gern aus Deutschland weg, hier seien die Menschen visionslos. Sie brauche interessante, lustige Menschen um sich herum. Sie erzählte mir, daß sie viel Zeit damit verbringe, die Bibel und v.a. christliche Videos zu studieren; zur Zeit arbeite sie intensiv mit dem biblischen Begriff des receiving all that you need. Ich fühlte mich erinnert an jene einschlägigen auflagenstarken Werke der aus den USA exportierten esoterischen Botschaft, nach der man seine Wünsche ans Universum richten solle und alles bekomme, wenn man es nur fest genug wolle. Wenn Esterela etwas von dem, was ich sagte, nicht passte, dann kommentierte sie das häufig mit "so, meinst du das". Am Ende der Sitzungen, in denen ich darum kämpfte, ihr vorurteilsfrei und möglichst hilfreich zu begegnen, sagte sie oft, schon im Stehen: "Es ist gut, dass ich hierher kommen kann". Das fühlte sich an wie eine Wurst, die sie mir offerierte, und ich war der Hund. Um mich zu trösten, oder vielleicht eher, um wenigstens mit meiner Mischung aus Schuld- und Insuffizienzgefühlen nicht ganz allein zu sein, sagte ich mir, daß der deutsche Staat ja vielleicht auch Fehler gemacht habe. Manche strauchelnden Menschen kannst Du am nachhaltigsten vollends lähmen, indem Du ihnen das gibst, was sie brauchen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen